G. W. Plechanow

Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung

* * *

Viertes Kapitel

Die idealistische deutsche Philosophie

Die Materialisten des 18. Jahrhunderts waren fest davon überzeugt, dass es ihnen gelungen sei, dem Idealismus den Todesstoß zu versetzen; Sie betrachteten ihn als eine veraltete, für immer aufgegebene Theorie. Aber schon am Ende des gleichen Jahrhunderts, setzte eine Reaktion gegen den Materialismus ein, und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangte der Materialismus selbst in die Lage eines Systems, das jedermann für veraltet, für endgültig begraben hielt. Der Idealismus erwachte nicht nur zu neuem Leben, er erlebte auch eine nie dagewesene, wahrhaft glänzende Entwicklung. Dafür gab es natürlich besondere gesellschaftliche Ursachen; aber wir wollen, ohne sie zu berühren, hier nur untersuchen, ob der Idealismus des 19. Jahrhunderts gegenüber dem Materialismus der vorangegangenen Epoche irgendwelche Vorzüge aufzuweisen hatte, und wenn ja, worin diese Vorzüge bestanden.

Der französische Materialismus offenbarte jedes Mal, wenn er in der Natur oder der Geschichte auf Fragen der Entwicklung stieß, eine auffallende, heutzutage geradezu unwahrscheinliche Schwäche. Nehmen wir beispielsweise die Abstammung des Menschen. Obwohl der Gedanke der allmählichen Entwicklung dieser Gattung den Materialisten nicht als „widerspruchsvoll“ erschien, hielten sie eine solche „Vermutung“ doch für sehr wenig wahrscheinlich. Die Verfasser des «Systeme de la nature» [1] (siehe das sechste Kapitel des ersten Teils) sagen, wenn sich jemand gegen eine solche Vermutung wenden sollte, indem er entgegnen würde, „dass die Natur durch eine bestimmte Anzahl unveränderlicher und allgemeiner Gesetze wirkt“, und noch hinzufügen würde, dass „der Mensch, der Vierfüßler, der Fisch, das Insekt, die Pflanze usw. von aller Ewigkeit an sind und ewig das bleiben, was sie sind“, sie auch „dagegen nichts einzuwenden haben“. Sie würden nur bemerken, dass auch eine solche Ansicht den von ihnen vertretenen Wahrheiten nicht widerspreche. „Es ist dem Menschen nicht gegeben, alles zu wissen; es ist ihm nicht gegeben, seinen Ursprung zu erkennen“ – das ist alles, was die Verfasser des «Systeme de la nature» über diese wichtige Frage abschließend zu sagen haben.

Helvétius war dem Gedanken der allmählichen Entwicklung des Menschen anscheinend mehr zugeneigt. „Die Materie ist ewig, aber ihre Zusammensetzungen und Formen sind vorübergehend“, bemerkt er und ruft in Erinnerung, dass sich die menschlichen Rassen auch jetzt unter dem Einfluss des Klimas verändern. [A] Auch hält er alle Tierarten überhaupt für veränderlich. Diesen gesunden Gedanken formuliert er jedoch auf sehr eigenartige Weise. Er läuft darauf hinaus, dass die Ursachen der „Unähnlichkeit“ der verschiedenen Tier- und Pflanzenarten entweder durch die Eigenschaft ihrer Keime oder durch die Unterschiede ihrer Umwelt, durch die Unterschiede ihrer „Erziehung“ bedingt seien. [B]

Die Vererbung schloss somit die Veränderung aus, und umgekehrt. Wenn wir die Theorie der Veränderlichkeit anerkennen, müssen wir also annehmen, dass aus jedem „Keim“ unter entsprechenden Umständen ein beliebiges Tier oder eine beliebige Pflanze entstehen könne: aus dem Keim einer Eiche zum Beispiel ein Stier oder eine Giraffe. Selbstverständlich konnte eine solche „Vermutung“ die Frage der Artenentstehung nicht erhellen, und Helvétius selbst, der sie einmal flüchtig ausgesprochen hatte, kehrte zu ihr nie wieder zurück.

Ebenso schlecht konnten die französischen Materialisten auch die Erscheinungen der gesellschaftlichen Entwicklung erklären. Die verschiedenen Systeme der „Gesetzgebung“ wurden von ihnen ausschließlich als Früchte bewusster schöpferischer Tätigkeit der „Gesetzgeber“ dargestellt, verschiedene religiöse Systeme als Erzeugnisse schlauer Priester, usw.

Diese Ohnmacht des französischen Materialismus gegenüber Fragen der Entwicklung in Natur und Geschichte machte ihn arm an philosophischem Gehalt. In der Lehre von der Natur lief dieser Gehalt auf einen Kampf gegen den einseitigen Materiebegriff der Dualisten hinaus; in der Lehre vom Menschen beschränkte er sich auf eine endlose Wiederholung und auf eine gewisse Modifikation des Lockeschen Satzes: Es gibt keine angeborenen Ideen. So nützlich diese Wiederholung im Kampf gegen überlebte sittliche und politische Theorien war – ernste wissenschaftliche Bedeutung hätte ihr nur zukommen können, falls es den Materialisten gelungen wäre, ihren Gedanken auf die Erklärung der geistigen Entwicklung der Menschheit anzuwenden. Wir haben oben schon gesagt, dass die französischen Materialisten (das heißt eigentlich Helvétius) einige bemerkenswerte Versuche in dieser Richtung unternahmen, dass diese Versuche jedoch erfolglos endeten (wenn sie aber gelungen wären, hätte sich der französische Materialismus gegenüber Fragen der Entwicklung als sehr stark erwiesen) und dass die Materialisten in ihren Auffassungen über die Geschichte einen rein idealistischen Standpunkt bezogen: Die Ansichten regieren die Welt. Nur zeitweise, nur höchst selten drang der Materialismus in ihre geschichtlichen Gedankengänge ein – in Bemerkungen zu dem Thema, dass ein einziges verirrtes Atom, das in den Kopf des „Gesetzgebers“ eingedrungen sei und dort eine Störung der Gehirnfunktionen hervorgerufen habe, den Ablauf der Geschichte für mehrere Jahrhunderte ändern könne. Ein solcher Materialismus war eigentlich ein Fatalismus und ließ keinen Platz für die Voraussicht von Ereignissen oder, anders ausgedrückt, für die bewusste historische Tätigkeit denkender Persönlichkeiten.

So ist es nicht erstaunlich, dass fähigen und talentierten Menschen, die nicht in den Kampf der gesellschaftlichen Kräfte, worin der Materialismus die furchtbare theoretische Waffe der äußersten linken Partei war, einbezogen waren, diese Lehre grau, cimmerisch, totenhaft vorkam. So beurteilte sie zum Beispiel Goethe. [2] Um diesen Vorwurf zu entkräften, musste der Materialismus die trockenen, abstrakten Überlegungen aufgeben und versuchen, das „lebendige Leben“, die komplizierte und bunte Kette konkreter Erscheinungen zu begreifen und von seinem Standpunkt aus zu erklären. In seiner damaligen Form war er jedoch unfähig, diese hohe Aufgabe zu lösen, und so wurde sie von der idealistischen Philosophie aufgenommen.

Das wichtigste und abschließende Glied in der Entwicklung dieser Philosophie ist das System Hegels, und darum werden wir in unserer Darstellung hauptsächlich auf dieses System hinweisen.

Hegel bezeichnete als metaphysisch den Standpunkt jener Denker – einerlei ob Idealisten oder Materialisten –, die, außerstande, den Entwicklungsvorgang von Erscheinungen zu begreifen, diese Erscheinungen sich und anderen als erstarrt, zusammenhanglos, als unfähig, ineinander überzugehen, darstellten. Diesem Standpunkt stellte er die Dialektik entgegen, die die Erscheinungen gerade in ihrer Entwicklung und folglich in ihrer Wechselbeziehung erforscht.

Nach Hegel ist die Dialektik das Prinzip jedes Lebens. Man begegnet nicht selten Menschen, die, nachdem sie eine abstrakte These ausgesprochen haben, gern einräumen, dass sie sich vielleicht irren und dass vielleicht gerade die entgegen gesetzte Ansicht richtig sei. Das sind wohlerzogene Leute, die bis in die Fingerspitzen von „Toleranz“ durchdrungen sind; leben und leben lassen, sagen sie sich in ihrem Verstand. Die Dialektik hat mit der skeptischen Toleranz weltgewandter Menschen nichts gemein, doch versteht auch sie, direkt entgegen gesetzte abstrakte Thesen zu vereinigen. Der Mensch ist sterblich, sagen wir und betrachten den Tod als etwas, was in den äußeren Verhältnissen wurzelt und der Natur des lebenden Menschen völlig fremd ist. Es ergibt sich, dass der Mensch zwei Eigenschaften besitzt: erstens, lebendig zu sein, und zweitens, auch sterblich zu sein. Bei näherer Betrachtung erweist es sich aber, dass das Leben selbst die Keime des Todes in sich trägt und dass jede Erscheinung überhaupt in dem Sinne widerspruchsvoll ist, als sie aus sich selbst heraus die Elemente entwickelt, die früher oder später ihrer Existenz ein Ende machen, sie in ihr eigenes Gegenteil verwandeln. Alles fließt, alles verändert sich, und es gibt keine Kraft, die imstande wäre, diesen ständigen Fluss aufzuhalten, diese ewige Bewegung zum Stillstand zu bringen; es gibt keine Kraft, die fähig wäre, sich der Dialektik der Erscheinungen zu widersetzen. Goethe verkörpert die Dialektik als Geist:

„In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall’ ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.“ [3]

In einem bestimmten Augenblick befindet sich ein bewegter Körper in einem bestimmten Punkt, gleichzeitig befindet er sich auch nicht in diesem Punkt, denn wenn er sich nur in ihm befände, wäre er zumindest für diesen Augenblick unbewegt. Jede Bewegung ist ein dialektischer Prozess, ein lebendiger Widerspruch; da es aber keine einzige Naturerscheinung gibt, bei deren Erklärung wir nicht letzten Endes an die Bewegung appellieren, muss man Hegel recht geben, wenn er sagt, dass das Dialektische auch die Seele alles wahrhaften wissenschaftlichen Erkennens ist. Das bezieht sich aber nicht nur auf die Erkenntnis der Natur. Was bedeutet zum Beispiel der alte Aphorismus: Summum jus summa injuria? [4] Soll das heißen, dass wir am gerechtesten dann handeln, wenn wir, indem wir dem Recht Genüge tun, zugleich auch dem Unrecht Genüge tun? Nein, so denkt nur „die gemeine Erfahrung, der Verstand der Narren“. Dieser Aphorismus bedeutet, dass sich jedes abstrakte Recht, bis zu seinem logischen Ende geführt, in Unrecht, das heißt in sein eigenes Gegenteil, verwandelt. Shakespeares Kaufmann von Venedig veranschaulicht das auf das glänzendste. Betrachten Sie nun die ökonomischen Erscheinungen. Was ist das logische Ende der „freien Konkurrenz“? Jeder Unternehmer will seine Konkurrenten schlagen und alleiniger Herr des Marktes bleiben. Und nicht selten kommt es vor, dass es irgendeinem Rothschild oder Vanderbilt glücklich gelingt, dieses Streben zu verwirklichen. Das zeigt aber, dass die freie Konkurrenz zum Monopol führt, das heißt zur Negation der Konkurrenz, zu ihrem eigenen Gegenteil. Oder sehen Sie sich an, wohin das von unserer Volkstümlerliteratur gerühmte sogenannte Arbeitsprinzip des Eigentums führt. Mir gehört nur das, was ich durch meine Arbeit geschaffen habe. Das ist im höchsten Grade gerecht. Nicht weniger gerecht ist es, dass ich den von mir geschaffenen Gegenstand nach meinem freien Gutdünken verwende; ich benutze ihn selbst oder tausche ihn gegen einen anderen Gegenstand, den ich aus irgendeinem Grunde begehre. Ebenso gerecht ist es schließlich, dass ich den von mir eingetauschten Gegenstand ebenfalls nach freiem Gutdünken so verwende, wie es mir angenehmer, besser, vorteilhafter dünkt. Nehmen wir nun an, ich hätte das Produkt meiner eigenen Arbeit für Geld verkauft und das Geld zur Entlohnung eines Arbeiters verwendet, das heißt fremde Arbeitskraft gekauft. Wenn ich diese fremde Kraft benutze, erweise ich mich als Eigentümer eines Wertes, der bedeutend mehr Wert besitzt, als der von mir gezahlte Kaufpreis. Das ist einerseits völlig gerecht, da es schon anerkannt ist, dass ich den eingetauschten Gegenstand so benutzen kann, wie es mir besser und vorteilhafter erscheint, anderseits ist es höchst ungerecht, weil ich fremde Arbeit ausbeute und damit jenes Prinzip negiere, das meinem Gerechtigkeitsbegriff zugrunde lag. Der durch meine persönliche Arbeit erworbene Besitz verschafft mir einen Besitz, der durch Arbeit anderer geschaffen ist. Summum jus summa injuria. Diese injuria entsteht durch den Ablauf der Dinge in der Wirtschaft fast jedes einzelnen wohlhabenderen Heimarbeiters, fast bei jedem ordentlichen Landwirt. [C]

Also, jede Erscheinung wird durch die Wirkung jener gleichen Kräfte, die ihre Existenz bedingen, früher oder später doch unvermeidlich in ihr eigenes Gegenteil verwandelt.

Wir sagten, die idealistische deutsche Philosophie betrachtete alle Erscheinungen vom Standpunkt ihrer Entwicklung aus, und dass dieses gerade hieße, sie dialektisch anzusehen. Man muss erwähnen, dass die Metaphysiker es verstehen, die eigentliche Lehre von der Entwicklung zu entstellen. Sie wiederholen ständig, es gebe weder in der Natur noch in der Geschichte Sprünge. Wenn sie von der Entstehung einer Erscheinung oder gesellschaftlichen Einrichtung sprechen, stellen sie die Sache so dar, als sei diese Erscheinung oder Einrichtung einst sehr klein, völlig unmerklich gewesen und dann allmählich gewachsen. Wenn es sich um die Vernichtung der gleichen Erscheinung oder Einrichtung handelt, wird im Gegensatz dazu eine Verringerung angenommen, die so lange vor sich gehe, bis die Erscheinung infolge ihrer mikroskopischen Abmessungen unmerklich geworden sei. Eine so verstandene Entwicklung erklärt gar nichts; sie setzt die Existenz jener Erscheinungen, die sie erklären soll, voraus und berücksichtigt nur die darin vor sich gehenden quantitativen Veränderungen. Die Vorherrschaft des metaphysischen Denkens war in der Naturwissenschaft einst so groß, dass sich viele Naturwissenschaftler eine Entwicklung gar nicht anders vorstellen konnten denn als allmähliche Vergrößerung oder Verkleinerung der Abmessungen der untersuchten Erscheinungen. Obwohl bereits seit den Zeiten Harveys anerkannt ist, dass „alles Lebende sich aus dem Ei entwickelt“, war mit einer solchen Entwicklung aus dem Ei offenbar keinerlei exaktere Vorstellung verknüpft, und die Entdeckung der Spermatozoen diente sofort als Anlass zur Entstehung einer Theorie, nach der in der Samenzelle ein fertiges, völlig entwickeltes, jedoch mikroskopisch kleines Tier enthalten sei, so dass sich die ganze „Entwicklung“ auf ein Wachstum reduziere. Genauso denken jetzt die weisen Alten, darunter viele berühmte europäische Evolutionssoziologen, über die „Entwicklung“ beispielsweise politischer Einrichtungen: Die Geschichte macht keine Sprünge; va piano! [5]

Die deutsche idealistische Philosophie trat dieser kümmerlichen Vorstellung von der Entwicklung entschlossen entgegen. Hegel verlachte sie höhnisch und bewies unwiderleglich, dass sowohl in der Natur als auch in der menschlichen Gesellschaft die Sprünge ein ebenso unumgängliches Moment der Entwicklung sind wie die allmählichen quantitativen Veränderungen.

„Es hat sich aber gezeigt, dass die Veränderungen des Seins überhaupt nicht nur das Übergehen einer Größe in eine andere Größe, sondern Übergang vom Qualitativen in das Quantitative und umgekehrt sind, ein Anderswerden, das ein Abbrechen des Allmählichen und ein qualitativ Anderes gegen das vorhergehende Dasein ist. Das Wasser wird durch die Erkaltung nicht nach und nach hart ..., sondern ist auf einmal hart; schon mit der ganzen Temperatur des Eispunktes, wenn es ruhig steht, kann es noch seine ganze Flüssigkeit haben, und eine geringe Erschütterung bringt es in den Zustand der Härte ... Im Moralischen ... findet derselbe Übergang des Quantitativen ins Qualitative statt –, und verschiedene Qualitäten erscheinen sich auf eine Verschiedenheit der Größe zu gründen. Es ist ein Mehr oder Weniger, wodurch das Maß des Leichtsinns überschritten wird, und etwas ganz anderes, Verbrechen, hervortritt, wodurch Recht in Unrecht, Tugend in Laster übergeht. – So erhalten auch Staaten durch ihren Größenunterschied, wenn das übrige als gleich angenommen wird, einen verschiedenen qualitativen Charakter. Gesetze und Verfassung werden zu etwas anderem, wenn der Umfang des Staats und die Anzahl der Bürger sich erweitert.“ [D]

Die modernen Naturwissenschaftler wissen sehr gut, wie häufig quantitative Veränderungen zur Veränderung der Qualität führen. Warum ruft ein Teil des Sonnenspektrums in uns die Empfindung der roten Farbe, ein anderer der grünen usw. hervor? Die Physik antwortet, dass es sich hier um die Schwingungszahl von Ätherteilchen handele. Es ist bekannt, dass sich diese Zahl für jede Spektralfarbe ändert und von Rot zu Violett wächst. Aber das ist noch nicht alles. Die Wärmeintensität im Spektrum vergrößert sich, wenn man sich dem Außenrand von Rot nähert, und erreicht den höchsten Wert in einem gewissen Abstand von ihm, außerhalb des Spektrums. So ergibt sich, dass im Spektrum Strahlen besonderer Art vorhanden sind, die nicht mehr leuchten, sondern nur wärmen. Die Physik sagt auch hier, dass sich die Qualität der Strahlen infolge einer Veränderung der Schwingungszahl der Ätherteilchen ändere.

Doch auch das ist noch nicht alles. Sonnenstrahlen üben eine gewisse chemische Wirkung aus, wie das zum Beispiel das Bleichen von Geweben in der Sonne zeigt. Durch die größte chemische Wirkung zeichnen sich violette und sogenannte ultraviolette Strahlen aus, die keine Lichtempfindung mehr in uns auslösen. Ein Unterschied in der chemischen Wirkung von Sonnenstrahlen erklärt sich wiederum durch nichts anderes als durch quantitative Veränderungen in der Schwingungszahl der Ätherteilchen: Quantität geht in Qualität über.

Das bestätigt sich auch in der Chemie. Ozon hat andere Eigenschaften als gewöhnlicher Sauerstoff. Woher rührt dieser Unterschied? Das Ozonmolekül enthält eine andere Anzahl Atome als das Molekül des gewöhnlichen Sauerstoffs. Nehmen wir drei Kohlenwasserstoffverbindungen: CH4 (Sumpfgas [Methan]), C2H6 (Dimethyl [Äthan]) und C3H8 (Methyläthyl [Propan]). Sie alle sind nach der Formel: n Kohlenstoffatome und 2n + 2 Wasserstoffatome aufgebaut. Wenn n = 1 ist, erhält man Methan; bei n = 2 erhält man Äthan; bei n = 3 entsteht Propan. Auf diese Art entstehen ganze Reihen, über deren Bedeutung jeder Chemiker erzählen kann, und alle diese Reihen bestätigen einstimmig den Satz der alten Dialektiker-Idealisten: Quantität geht in Qualität über.

Jetzt haben wir die wichtigsten Merkmale des dialektischen Denkens kennengelernt, aber der Leser ist noch unbefriedigt. Wo bleibt nun die berühmte Triade, fragt er, jene Triade, in der bekanntlich das ganze Wesen der Hegelschen Dialektik besteht? Der Leser möge verzeihen, wir haben über die Triade aus dem einfachen Grunde nichts gesagt, weil sie bei Hegel keineswegs jene Rolle spielt, die ihr von Leuten zugeschrieben wird, die keinerlei Begriff von der Philosophie dieses Denkers haben und sie zum Beispiel an Hand von Spassowitschs Lehrbuch des Kriminalrechts studiert haben. [E] Voll heiliger Einfalt, sind diese leichtgläubigen Menschen überzeugt, die ganze Argumentation des deutschen Idealisten bestehe in Hinweisen auf die Triade; auf welche theoretischen Schwierigkeiten der Alte auch stoßen mochte, mit ruhigem Lächeln stellte er es anderen frei, sich die armen, „uneingeweihten“ Köpfe an ihnen zu zerbrechen, für sich selbst aber konstruierte er sofort den Syllogismus: alle Erscheinungen vollziehen sich nach der Triade; ich habe es hier mit einer Erscheinung zu tun; also wende ich mich der Triade zu. [F] Das sind einfach verrückte Nichtigkeiten, wie eine der Gestalten Karonins sagt, oder unnatürliches leeres Geschwätz, wenn man einen Ausdruck Schtschedrins vorzieht. In keinem einzigen der achtzehn Bände Hegels spielt die „Triade“ die Rolle eines Arguments, und wer seine philosophische Lehre auch nur etwas kennt, der begreift, dass sie diese Rolle auch nicht spielen konnte. Bei Hegel hat die Triade die gleiche Bedeutung, die sie bereits bei Fichte hatte, dessen Philosophie sich von der Hegelschen wesentlich unterscheidet. Es ist klar, dass nur völlige Ignoranz eine Eigenschaft, die mindestens zwei gänzlich verschiedenen philosophischen Systemen eigen ist, als Hauptmerkmal des einen Systems ansehen kann.

Es tut uns sehr leid, dass die „Triade“ uns von unseren Ausführungen abhält, doch wenn wir sie erwähnt haben, müssen wir auch zu einem Ende kommen. Sehen wir uns näher an, was das für ein Vogel ist.

Jede Erscheinung, die sich bis zu Ende entwickelt, verwandelt sich in ihr Gegenteil; da aber die neue, der ersten entgegen gesetzte Erscheinung sich ihrerseits in ihr Gegenteil verwandelt, weist die dritte Entwicklungsphase eine formale Ähnlichkeit mit der ersten auf. Lassen wir zunächst die Frage beiseite, inwiefern dieser Entwicklungsverlauf der Wirklichkeit entspricht; nehmen wir an, die Menschen, die dieses vollständige Entsprechen vermuteten, hätten sich geirrt; in jedem Fall ist es klar, dass sich die „Triade“ nur aus einem der Sätze Hegels ergibt, ihm aber keineswegs als Grundthese dient. Das ist ein sehr wesentlicher Unterschied, denn wenn die Triade als Grundthese aufträte, könnten Menschen, die ihr eine derart wichtige Rolle zuschreiben, tatsächlich in ihrem „Schatten“ Schutz suchen; da sie diese Eigenschaft aber nicht aufweist, können sich hinter ihr höchstens solche Leute verstecken, die „das Glockengeläut hören, aber nicht wissen, woher es kommt“. [6]

Selbstverständlich würde sich die Lage der Dinge eigentlich nicht um ein Jota ändern, wenn sich die Dialektiker, ohne sich hinter der „Triade“ zu verstecken, „bei der geringsten Gefahr“ „in den Schutz“ jener These begäben, laut der sich jede Erscheinung in ihr eigenes Gegenteil verwandelt. Doch sind sie nie derart vorgegangen, und zwar deshalb nicht, weil die genannte These ihre Ansichten über die Entwicklung der Erscheinungen keineswegs erschöpft. So sagen sie zum Beispiel, dass die Quantität im Verlauf der Entwicklung in Qualität übergehe, die Qualität aber auch in Quantität. Folglich müssen sie sowohl die qualitative als auch die quantitative Seite des Prozesses berücksichtigen; das setzt aber ein aufmerksames Verhalten zu seinem wirklichen, tatsächlichen Verlauf voraus; das bedeutet, dass sie sich nicht mit abstrakten Schlussfolgerungen aus abstrakten Thesen begnügen oder sich zumindest nicht damit begnügen dürfen, wenn sie ihrer Weltanschauung treu bleiben wollen.

„Auf allen Seiten seiner Werke hat Hegel stets unermüdlich hervorgehoben, dass die Philosophie identisch mit der Totalität der Empirie sei, dass die Philosophie nichts so sehr erfordere als die Vertiefung in die empirischen Wissenschaften ... Der Stoff hat ohne den Gedanken immer noch einen relativen Wert, der Gedanke ohne den Stoff nur die Bedeutung einer Chimäre ... Die Philosophie kann nichts sein als das Bewusstsein, welches die empirischen Wissenschaften über sich selbst erlangen.“

Das ist die Auffassung von der Aufgabe des denkenden Forschers, zu der Lassalle nach dem Studium der Hegelschen Philosophie gelangt war [G]: Die Philosophen müssen Spezialisten in den Wissenschaften sein, denen sie zur Erlangung des „Eigenbewusstseins“ verhelfen wollen. Vom speziellen Studium eines Faches scheint es recht weit bis zum leichtsinnigen Geschwätz über die „Triade“ zu sein. Man sage uns nicht, Lassalle sei kein „echter“ Hegelianer gewesen, er habe zu den „Linken“ gehört und den „Rechten“ vorgeworfen, sie befassten sich mit abstrakten Konstruktionen. Lassalle sagt doch, direkt, er habe seine Ansicht unmittelbar bei Hegel entlehnt.

Vielleicht wird man versuchen, die Aussagendes Verfassers des Systems der erworbenen Rechte zurückzuweisen, wie man vor Gericht Verwandtenaussagen zurückweist. Wir wollen dem nicht widersprechen; als Zeugen wollen wir einen völlig abseits stehenden Mann heranziehen, den Verfasser der Skizzen über die Gogolsche Periode.

Wir bitten um Aufmerksamkeit; der Zeuge wird ausführlich und, wie er es stets tut, klug reden:

„Wir sind ebenso wenig Anhänger Hegels wie Descartes und Aristoteles’. Hegel gehört heute bereits der Geschichte an, die Gegenwart besitzt eine andere Philosophie und hat die Mängel des Hegelschen Systems gut erkannt; man muss jedoch zugeben, dass die von Hegel aufgestellten Grundsätze der Wahrheit wirklich sehr nahekamen und dass einige Seiten der Wahrheit von diesem Denker mit wahrhaft erstaunlicher Kraft herausgearbeitet worden sind. Von diesen Wahrheiten verdanken einige ihre Entdeckung Hegel persönlich; andere sind, obwohl sie nicht ausschließlich seinem System angehören, sondern der ganzen deutschen Philosophie seit Kant und Fichte, doch vor Hegel niemals so klar formuliert und so stark vorgetragen worden wie in seinem System.

Vor allem wollen wir auf den höchst fruchtbaren Grundsatz jeden Fortschritts verweisen, durch den sich die deutsche Philosophie im allgemeinen und Hegels System im besonderen so scharf und so glänzend von jenen scheinheiligen und feigen Ansichten unterscheiden, die damals (zu Beginn des 19. Jahrhunderts) bei den Franzosen und Engländern vorherrschend waren: ‚Die Wahrheit ist das oberste Ziel des Denkens; sucht die Wahrheit, denn in der Wahrheit liegt das höchste Gut; wie immer die Wahrheit sein mag, ist sie besser als alles, was nicht wahr ist; die erste Pflicht des Denkers ist: vor keinem Ergebnis halt machen; er muss bereit sein, der Wahrheit seine liebsten Ansichten zum Opfer zu bringen. Der Irrtum ist die Quelle allen Verderbens; die Wahrheit ist das höchste Gut und die Quelle aller anderen Güter.‘ Um die außerordentliche Wichtigkeit dieser Forderung richtig zu verstehen, die der gesamten deutschen Philosophie seit Kant eigen ist, die aber besonders energisch von Hegel ausgesprochen wurde, muss man sich daran erinnern, mit welch sonderbaren und engstirnigen Bedingungen die Denker anderer damaliger Schulen die Wahrheit einengten: sie machten sich einzig dazu ans Philosophieren, um ‚eine ihnen am Herzen liegende Überzeugung zu rechtfertigen‘, das heißt, sie suchten nicht nach der Wahrheit, sondern nach einer Stütze für ihre Vorurteile; jeder nahm von der Wahrheit nur das, was ihm gefiel, und lehnte jede ihm unbequeme Wahrheit ab, wobei er ungeniert zugab, dass ein angenehmer Irrtum ihm besser gefalle als eine unvoreingenommene Wahrheit. Diese Manier, sich nicht um die Wahrheit zu bemühen, sondern um die Bestätigung angenehmer Vorurteile, benannten die deutschen Philosophen (besonders Hegel) – ‚subjektives Denken‘ (Herrgott! Ist das nicht der Grund, warum unsere subjektiven Denker Hegel einen Scholastiker schelten? – Der Verfasser), Philosophieren zum eignen Vergnügen und nicht aus lebendigem Bedürfnis nach Wahrheit. Hegel ist dieser inhaltslosen und schädlichen Beschäftigung scharf zu Leibe gegangen.“ (Hört! Hört!) „Als notwendiges Schutzmittel gegen jede Versuchung, zugunsten persönlicher Wünsche oder Vorurteile von der Wahrheit abzuweichen, stellte Hegel die berühmte ‚dialektische Denkmethode‘ auf. Ihr Wesen besteht darin, dass der Denker bei keinem positiven Schlussergebnis stehenbleiben darf, sondern suchen muss, ob es an dem Gegenstand, über den er nachdenkt, nicht Eigenschaften und Kräfte gibt, die im Gegensatz zu dem stehen, was auf den ersten Blick an diesem Gegenstand erkennbar ist; hierdurch war der Denker gezwungen, den Gegenstand von allen Seiten zu betrachten, und die Wahrheit ergab sich ihm nur als Folge des Kampfes aller möglicher gegensätzlicher Meinungen. Auf diese Weise kam man an Stelle der bisherigen einseitigen Auffassungen des Gegenstandes nach und nach zu einer umfassenden, allseitigen Erforschung und zum lebendigen Begriff von allen wirklichen Eigenschaften des Gegenstandes. Die Erklärung der Wirklichkeit wurde zur wesentlichen Pflicht philosophischen Denkens. Hieraus ergab sich eine außerordentliche Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit, über die man sich früher keine Gedanken gemacht hatte, indem man sie ungeniert zugunsten der eigenen einseitigen Vorurteile entstellte.“ (De te fabula narratur! [7]) „So trat gewissenhafte, unermüdliche Wahrheitssuche an die Stelle der bisherigen, willkürlichen Auslegungen. In der Wirklichkeit hängt aber alles von den Umständen, von den örtlichen und zeitlichen Bedingungen ab, und Hegel erkannte daher, dass die allgemeinen Phrasen, mit denen man bisher über Gut und Böse geurteilt hatte, ohne die näheren Umstände und Ursachen zu untersuchen, unter denen die betreffende Erscheinung entstanden war – dass diese allgemeinen, abstrakten Redereien unbefriedigend seien: jeder Gegenstand, jede Erscheinung hat eigene Bedeutung und muss unter Berücksichtigung der Umstände beurteilt werden, unter denen sie existiert; diese Regel fand ihren Ausdruck in der Formel: ‚Es gibt keine abstrakte Wahrheit, die Wahrheit ist konkret‘, das heißt, ein definitives Urteil lässt sich nur über eine bestimmte Tatsache fällen, und zwar nach Untersuchung aller Umstände, von denen sie abhängt.“ [H]

Somit sagt man uns einerseits, das Kennzeichen der Hegelschen Philosophie sei die sorgfältigste Erforschung der Wirklichkeit, sei die gewissenhafteste Einstellung jeder Sache gegenüber, sei ihre Erforschung in lebendiger Umgebung, unter allen jenen Zeit- und Raumumständen, die ihre Existenz bedingen oder begleiten. Der Hinweis N. G. Tschernyschewskis ist in diesem Fall identisch mit Lassalles Aussage. Anderseits möchte man uns einreden, diese Philosophie sei leere Scholastik, deren ganzes Geheimnis im sophistischen Gebrauch der „Triade“ bestehe. In dieser Hinsicht stimmt die Aussage des Herrn Michailowski völlig mit der Aussage des Herrn W. W. und einer ganzen Legion anderer russischer Schriftsteller der Gegenwart überein. Wie erklärt sich dieser Widerspruch der Zeugen? Erklären Sie ihn, wie Sie wollen, nur vergessen Sie nicht, dass Lassalle und der Verfasser der Skizzen über die Gogolsche Periode die Philosophie, von der sie sprachen, kannten, während sich die Herren! Michailowski, W. W. und Konsorten sicherlich nicht die Mühe genommen haben, auch nur ein einziges Werk von Hegel zu studieren.

Und beachten Sie, dass der Verfasser der Skizzen bei seiner Charakteristik des dialektischen Denkens mit keinem einzigen Wort die Triade erwähnt hat. Warum hat er jenen Elefanten nicht bemerkt, den Herr Michailowski und Kompanie so hartnäckig und so feierlich allen Müßiggängern zur Schau stellen? [8] Nochmals: Bedenken Sie, dass der Verfasser der Skizzen über die Gogolsche Periode Hegels Philosophie kannte, während Herr Michailowski und Konsorten nicht den leisesten Schimmer davon haben.

Vielleicht beliebt es dem Leser, sich an irgendwelche anderen Urteile über Hegel von dem Verfasser der Skizzen über die Gogolsche Periode zu erinnern? Vielleicht wird er auf den berühmten Aufsatz Zur Kritik der philosophischen Vorurteile gegen den ländlichen Gemeinbesitz hinweisen? In diesem Aufsatz handelt es sich gerade um die Triade, und sie wird scheinbar als das Hauptsteckenpferd des deutschen Idealisten hingestellt. Doch eben nur scheinbar. In seinen Gedankengängen über die Geschichte des Eigentums behauptet der Verfasser, dass es in der dritten, höchsten Phase seiner Entwicklung zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren werde, das heißt, dass das Privateigentum am Grund und Boden sowie an den Produktionsmitteln seinen Platz dem gesellschaftlichen Eigentum abtreten werde. Diese Rückkehr, sagt er, sei ein allgemeines Gesetz, das sich in jedem Entwicklungsprozess äußere. Die Argumentation des Verfassers ist in diesem Fall tatsächlich nichts anderes als eine Berufung auf die Triade. Darin besteht eben ihr wesentlicher Mangel: Sie ist abstrakt; die Entwicklung des Eigentums wird ohne Zusammenhang mit seinen konkreten historischen Bedingungen betrachtet. Deswegen sind auch die Argumente des Verfassers zwar scharfsinnig und elegant, aber nicht überzeugend; sie frappieren, setzen nur in Erstaunen, überzeugen jedoch nicht. Ist aber Hegel an diesem Mangel in der Beweisführung des Verfassers der Kritik der philosophischen Vorurteile schuld? Was glauben Sie, wäre die Argumentation des Verfassers auch dann abstrakt ausgefallen, wenn er den Gegenstand so betrachtet hätte, wie – seinen eigenen Worten nach – Hegel empfiehlt, alle Gegenstände zu betrachten, das heißt dabei auf dem Boden der Wirklichkeit zu bleiben, alle konkreten Umstände, alle örtlichen und zeitlichen Bedingungen zu untersuchen? Offensichtlich nicht; offensichtlich würde der Artikel diesen von uns bezeichneten Mangel dann nicht enthalten. Wie ist aber der Mangel in diesem Falle entstanden? Dadurch, dass der Verfasser der Kritik der philosophischen Vorurteile gegen den ländlichen Gemeinbesitz, als er die abstrakten Argumente seiner Gegner parierte, Hegels wohlgemeinte Ratschläge vergaß, dass er der Methode des Denkers, auf den er sich berief, untreu wurde. Es tut uns leid, dass er sich in der Polemik zu diesem Fehler hinreißen ließ. Wir wiederholen aber: Ist es denn Hegels Schuld, dass der Verfasser der Kritik der philosophischen Vorurteile es in diesem Falle nicht verstanden hat, dessen Methode zu gebrauchen? Seit wann werden philosophische Systeme nicht nach ihrem inneren Gehalt beurteilt, sondern nach jenen Fehlern, die zuweilen denen unterlaufen, die sich ihrer bedienen?

So eindringlich sich der Verfasser des genannten Aufsatzes auch auf die Triade beruft, so stellt er sie auch dort nicht als das Hauptsteckenpferd der dialektischen Methode dar; auch dort erscheint sie ihm nicht als Grundlage, sondern höchstens als unbestreitbare Folge. Die Grundlage, das Hauptmerkmal der Dialektik ist bei ihm in folgenden Worten enthalten:

„Ewiger Formenwechsel, ewige Negierung der aus bestimmtem Inhalt oder Streben geborenen Form durch die Verstärkung des gleichen Strebens, durch Höherentwicklung des gleichen Inhalts ... – wer dieses große, ewige, allgegenwärtige Gesetz begriffen hat, wer gelernt hat, es auf jede Erscheinung anzuwenden – wie gelassen ruft er die Chancen herbei, durch die andere sich verwirren lassen“ usw.

„Ewiger Formenwechsel, ewige Negierung der aus bestimmtem Inhalt ... geborenen Form“ – die Dialektiker betrachten diesen Wechsel, diese „Negierung der Form“ tatsächlich als das große, ewige, allgegenwärtige Gesetz. Gegenwärtig wird ihre Ansicht nur von Vertretern einiger Zweige der Gesellschaftswissenschaft nicht geteilt, die nicht den Mut haben, der Wahrheit gerade ins Auge zu blicken, und bemüht sind, die ihnen teuren Vorurteile, sei es auch mit Hilfe von Irrtümern, zu schützen. Um so höher müssen wir die Verdienste der großen deutschen Idealisten bewerten, die bereits vom Beginn dieses Jahrhunderts an unermüdlich vom ewigen Wechsel der Formen sprachen, von ihrer ewigen Negierung infolge der Verstärkung des Inhalts, der diese Formen erzeugt hat.

Oben hatten wir die Frage, ob sich tatsächlich jede Erscheinung – wie es die deutschen idealistischen Dialektiker glaubten – in ihr Gegenteil verwandle, „zunächst“ unbeantwortet gelassen. Jetzt wird uns der Leser hoffentlich darin zustimmen, dass man diese Frage eigentlich überhaupt nicht zu untersuchen braucht. Wenn Sie die dialektische Methode auf die Erforschung von Erscheinungen anwenden, so müssen Sie bedenken, dass die Formen infolge einer „Höherentwicklung ihres Inhalts“ ewig wechseln. Sie müssen diesen Prozess der Negierung der Formen in seiner ganzen Fülle verfolgen, wenn Sie den Gegenstand erschöpfen wollen. Ob aber die neue Form der alten entgegen gesetzt sein wird, das wird Ihnen die Erfahrung zeigen, und es ist ganz unnötig, das im Voraus zu wissen. Zwar wird Ihnen jeder beschlagene Jurist auf Grund der historischen Erfahrung der Menschheit sagen, dass sich jede Rechtsinstitution früher oder später in ihr eigenes Gegenteil verkehrt: Heute dient sie der Befriedigung gewisser gesellschaftlicher Bedürfnisse; heute ist sie in Anbetracht dieser Bedürfnisse nützlich, notwendig. Später beginnt sie, diese Bedürfnisse weniger und weniger zu befriedigen; schließlich wird sie zu einem Hindernis ihrer Befriedigung: früher notwendig, wird sie jetzt schädlich – schließlich wird sie abgeschafft. Nehmen Sie, was Sie wollen – die Geschichte der Literatur, die Geschichte der Arten –, überall, wo es eine Entwicklung gibt, erblicken Sie diese Dialektik. Immerhin würde jeder, der in das Wesen des dialektischen Prozesses eindringen möchte und ausgerechnet mit der Überprüfung der Lehre von der jeglichem Entwicklungsprozess innewohnenden Gegensätzlichkeit der Erscheinungen begänne, die Sache am verkehrten Ende anpacken.

Der Wahl des Standpunkts für eine solche Überprüfung würde stets sehr viel Willkür innewohnen. Man muss diese Frage von ihrer objektiven Seite betrachten, anders gesagt, man muss sich darüber klarwerden, was ein solcher, von der Entwicklung des gegebenen Inhalts bedingter, unvermeidlicher Formenwechsel eigentlich sei. Das ist der gleiche Gedanke, nur mit anderen Worten ausgedrückt. Doch bei seiner Überprüfung ist für Willkür schon kein Platz mehr, da der Standpunkt des Forschers vom Charakter der Formen und des Inhalts selbst bestimmt wird.

Um mit Engels zu sprechen, besteht Hegels Verdienst darin, dass er als erster alle Erscheinungen vom Standpunkt ihrer Entwicklung, vom Standpunkt ihres Werdens und Vergehens betrachtet hat.

„ Ob er der erste war, darüber lässt sich streiten“, sagt Herr Michailowski, „jedenfalls aber nicht der letzte; und die jetzigen Entwicklungstheorien – Spencers Evolutionismus, der Darwinismus, die Entwicklungsideen in der Psychologie, Physik, Geologie usw. – haben mit dem Hegelianertum nichts gemein.“ [I]

Wenn die moderne Naturwissenschaft auf Schritt und Tritt Hegels genialen Gedanken vom Übergang der Quantität in Qualität bestätigt, kann man da sagen, sie habe mit dem Hegelianertum nichts gemein? Richtig, Hegel war nicht der „letzte“ unter denen, die über diesen Übergang sprachen; dieses jedoch nur aus dem gleichen Grunde, aus dem Darwin nicht der „letzte“ von den Menschen war, die über die Veränderlichkeit der Arten sprachen, und Newton nicht der „letzte“ der Newtonisten. Was will man mehr? Das ist nun einmal der Entwicklungsverlauf des Menschenverstandes! Sprechen Sie einen richtigen Gedanken aus, und Sie werden sicherlich nicht der „letzte“ sein, der ihn verteidigt; reden Sie Unsinn, und Sie riskieren – obwohl die Menschen sehr leicht darauf hereinfallen –, sein „letzter“ Verteidiger und Träger zu bleiben. So riskiert, unserer bescheidenen Ansicht nach, Herr Michailowski sehr, sich als „letzter“ Anhänger der „subjektiven Methode in der Soziologie“ zu erweisen. Ehrlich gesagt, wir sehen keinen Anlass, diesen Verlauf der Entwicklung der Vernunft zu betrauern.

Wir schlagen Herrn Michailowski – der alles auf der Welt und manches andere „bestreiten kann“ – vor, unsere folgende Behauptung zu widerlegen: Überall, wo die Idee der Entwicklung in Erscheinung tritt, „in der Psychologie, Physik, Geologie usw.“, hat sie unbedingt viel „mit dem Hegelianertum gemein“, das heißt, in jeder der neuesten Lehren über die Entwicklung wiederholen sich unbedingt einige allgemeine Thesen Hegels. Wir sagen einige, nicht aber alle, da viele moderne Evolutionisten, bar einer entsprechenden philosophischen Vorbildung, die „Evolution“ abstrakt, einseitig auffassen; zum Beispiel die schon oben erwähnten Herren, die behaupten, dass weder die Natur noch die Geschichte Sprünge macht. Diese Leute könnten durch eine Bekanntschaft mit Hegels Logik sehr viel gewinnen. Herr Michailowski möge uns widerlegen, er soll nur bedenken, dass man uns nicht widerlegen kann, wenn man Hegel lediglich aus Spassowitschs Lehrbuch des Kriminalrechts und Lewes’ Geschichte der Philosophie kennt. Man muss sich die Mühe machen, Hegel selbst zu studieren.

Wenn wir sagen, dass die modernen Lehren der Evolutionisten stets sehr viel „mit dem Hegelianertum gemein“ haben, wollen wir nun nicht behaupten, die jetzigen Evolutionisten hätten ihre Ansichten bei Hegel entliehen. Ganz im Gegenteil. Häufig haben sie von Hegel eine ebenso irrige Vorstellung wie Herr Michailowski. Und wenn dessen ungeachtet ihre Theorien, wenn auch nur teilweise und zwar gerade dort, wo sie sich als richtig erweisen, als neue Illustrationen des „Hegelianertums“ dienen, so hebt dieser Umstand nur die erstaunliche Gedankenkraft des deutschen Idealisten hervor: Leute, die ihn nie gelesen haben, sehen sich durch die Macht der Tatsachen, durch den offensichtlichen Sinn der „Wirklichkeit“ gezwungen, so zu sprechen, wie er es tat. Einen größeren Triumph kann man sich für einen Philosophen gar nicht denken: Er wird von den Lesern ignoriert, aber das Leben bestätigt seine Ansichten.

Bis jetzt fällt es noch schwer, zu sagen, in welchem Maße die Ansichten der deutschen Idealisten die deutsche Naturwissenschaft unmittelbar in der angegebenen Richtung beeinflusst haben, obwohl es außer jedem Zweifel steht, dass sich in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in Deutschland sogar die Naturwissenschaftler während ihres Universitätsstudiums mit Philosophie befassten, und obwohl solche Kenner der biologischen Wissenschaften wie Haeckel die Evolutionstheorien der Naturphilosophen jetzt mit höchster Achtung erwähnen. Doch war die Naturphilosophie eine schwache Seite des deutschen Idealismus. Seine Stärke bestand in Theorien, die verschiedene Seiten der historischen Entwicklung berührten. Was aber diese Theorien betrifft, so möge sich Herr Michailowski, wenn er es einmal gewusst hat, dessen erinnern, dass jene glänzenden Plejaden der Denker und Naturforscher, die die Erforschung der Religion, der Ästhetik, des Rechts, der politischen Ökonomie, der Geschichte, der Philosophie usw. völlig erneuerten, gerade der Schule Hegels entstammten. In allen diesen „Disziplinen“ gab es im Verlauf einer – und zwar der fruchtbarsten – Zeitspanne keinen einzigen hervorragenden Arbeiter, der seine Entwicklung und seine frischen wissenschaftlichen Ansichten nicht Hegel verdankt hätte. Meint Herr Michailowski, dass man auch solche Tatsachen „bestreiten kann“? Wenn ja, so soll er es versuchen.

Wenn Herr Michailowski über Hegel spricht, bemüht er sich, „es so zu tun, dass er auch von Menschen verstanden wird, die in die Geheimnisse ‚des philosophischen Einfaltspinsels Jegor Fjodorowitsch’ nicht eingeweiht sind, wie sich Belinski respektlos ausdrückte, als er das Banner des Aufstands gegen Hegel hisste“. Er benutzt „zu diesem Zweck“ zwei Beispiele aus Engels’ Buch Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. (Warum nicht Hegel selbst? So wäre es bequemer für einen Schriftsteller gewesen, der „in die Geheimnisse eingeweiht ist“.)

„Ein Haferkorn gelangt unter günstige Bedingungen; es keimt und wird dadurch als solches, als Korn negiert; an seiner Stelle entsteht ein Halm, der eine Negation des Korns ist; die Pflanze entwickelt sich, trägt Frucht, das heißt neue Haferkörner; und wenn diese Körner reifen, vergeht der Halm; er, die Negation des Korns, wird selbst negiert. Danach wiederholt sich dieser Vorgang der Negation und der Negation der Negation unzählige Male (sic!). Diesem Vorgang liegt ein Widerspruch zu Grunde: Ein Haferkorn ist ein Korn und gleichzeitig auch kein Korn, da es sich immer in einer tatsächlichen oder möglichen Entwicklung befindet.“

Herr Michailowski „kann“ natürlich auch das „bestreiten“. Diese verlockende Möglichkeit wird bei ihm folgendermaßen zur Wirklichkeit:

„Die erste Stufe, die Stufe des Korns, ist die These – der Satz; die zweite, bis zur Bildung neuer Körner, ist die Antithese – der Gegensatz; die dritte ist die Synthese oder Vereinigung (Herr Michailowski hat beschlossen, populär zu schreiben, und lässt daher keine griechischen Wörter ohne Erläuterung oder Übersetzung); alles zusammen bildet die Triade oder Trichotomie. So ist das Schicksal alles Lebenden: es entsteht, entwickelt sich und liefert den Anfang zu seiner Wiederholung, danach stirbt es. Die ungeheure Masse einzelner Äußerungen zu diesem Vorgang erwacht natürlich sofort im Gedächtnis des Lesers, und Hegels Gesetz erweist sich in der ganzen organischen Welt (weiter wollen wir jetzt nicht gehen) als bestätigt. Sobald wir unser Beispiel jedoch näher betrachten, erblicken wir die beträchtliche Oberflächlichkeit und Willkür unserer Verallgemeinerung. Wir hatten den Samen, den Halm und wieder den Samen oder, richtiger gesagt, eine Samengruppe genommen. Doch bevor eine Pflanze Frucht trägt, blüht sie. Wenn wir über den Hafer oder ein anderes Getreide sprechen, dem wirtschaftliche Bedeutung zukommt, können wir den gesäten Samen, das Stroh und den geernteten Samen meinen, doch ist es keineswegs richtig, das Leben der Pflanze mit diesen drei Momenten als erschöpft zu betrachten. Im Leben der Pflanze ist das Moment der Blüte mit außerordentlicher und eigenartiger Anspannung der Kräfte verbunden, da aber die Blüte nicht unmittelbar aus dem Samen entsteht, erhalten wir, wenn wir Hegels Terminologie beibehalten, keine Trichotomie, sondern mindestens eine Tetrachotomie, eine Vierteiligkeit: der Halm negiert das Korn, die Blüte negiert den Halm, die Frucht negiert die Blüte. Das Weglassen des Moments der Blüte ist von großer Bedeutung, auch noch in folgender Hinsicht. Zur Zeit Hegels war es vielleicht noch zulässig, den Samen als den Ausgangspunkt des Lebens der Pflanze zu betrachten, vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt ist das vielleicht auch heute noch zulässig, das landwirtschaftliche Jahr beginnt mit der Aussaat des Korns. Aber das Leben der Pflanze beginnt nicht mit dem Samen. Wir wissen heute sehr gut, dass das Korn seinem Aufbau nach etwas sehr Kompliziertes ist, selbst das Produkt einer Entwicklung der Zelle darstellt und dass die für die Vermehrung notwendigen Zellen sich gerade im Augenblick der Blüte bilden. Somit ist auch im Beispiel des Pflanzenlebens der Ausgangspunkt willkürlich und unrichtig gewählt und der ganze Vorgang künstlich und wiederum willkürlich in den Rahmen der Trichotomie eingezwängt. [J] Folgerung: „Es ist Zeit, den Glauben auf zugeben, dass der Hafer nach Hegel wachse.“

Alles fließt, alles ändert sich! Zu unserer Zeit, das heißt, als sich der Schreiber dieser Zeilen während seiner Studentenzeit mit Naturwissenschaften befasste, wuchs der Hafer „nach Hegel“, heute aber „wissen wir sehr gut“, dass das Unsinn ist; jetzt «nous avons change tout cela». [9] Doch genug! „Wissen wir“ wirklich so gut, wovon „wir“ sprechen?

Herr Michailowski stellt das von Engels entliehene Beispiel mit dem Haferkorn ganz anders dar, als Engels es gibt. Engels sagt:

„... das Korn vergeht als solches, wird negiert, an seine Stelle tritt die aus ihm entstandene Pflanze, die Negation des Korns. Aber was ist der normale Lebenslauf dieser Pflanze? Sie wächst, blüht, wird befruchtet und produziert schließlich wieder Haferkörner [K], und sobald diese gereift, stirbt der Halm ab, wird seinerseits negiert. Als Resultat dieser Negation der Negation haben wir wieder das anfängliche Haferkorn, aber nicht einfach, sondern in zehn-, zwanzig-, dreißigfacher Anzahl.“ [L]

Als Negation des Korns erscheint bei Engels die ganze Pflanze, zu deren Kreislauf des Lebens unter anderem sowohl das Blühen als auch das Befruchtetwerden gehört. Herr Michailowski „negiert“ die Pflanze, indem er an ihre Stelle das Wort Halm setzt. Der Halm bildet bekanntlich nur einen Teil der Pflanze und wird von ihren anderen Teilen natürlich negiert: Omnis determinatio est negatio. [10] Gerade deshalb „negiert“ Herr Michailowski Engels’ Ausdruck und ersetzt ihn durch einen eigenen: Der Halm negiert das Korn, ruft er aus, die Blüte negiert den Halm, die Frucht negiert die Blüte; hier liegt mindestens eine Tetrachotomie vor! – Selbstredend, Herr Michailowski, doch das alles beweist nur, dass Sie in der Diskussion mit Engels selbst vor ... – wie soll man das milde ausdrücken – selbst vor dem „Moment“ ... der Modifizierung der Worte Ihres Gegners nicht zurückschrecken. Diese Methode ist etwas ...“subjektiv“.

Sobald das „Moment“ der Unterschiebung seine Pflicht erfüllt hat, fällt die verhasste Triade wie ein Kartenhaus zusammen. Sie haben das Moment der Blüte fortgelassen, wirft der russische „Soziologe“ dem deutschen Sozialisten vor: „Das Weglassen des Moments der Blüte ist von großer Bedeutung.“ Der Leser hat gesehen, dass „das Moment der Blüte“ nicht von Engels, sondern von Michailowski bei der Wiedergabe der Engelsschen Gedanken fortgelassen wurde: es wird ihm auch bekannt sein, dass derartigem „Weglassen“ in der Literatur große, wenn auch durchaus negative Bedeutung beigelegt wird. Herr Michailowski hat auch hier ein hässliches „Moment“ benutzt. Was soll man aber tun? Die „Triade“ ist so verhasst, der Sieg ist so angenehm, und „Menschen, die in die Geheimnisse“ eines gewissen „Einfaltspinsels“ „nicht eingeweiht sind“, sind so leichtgläubig!

„Wir Frauen sind alle keusch geboren
Und treu der ehelichen Pflicht;
Doch geht die Treue leicht verloren,
Ob wir es wollen oder nicht.“ [11]

Die Blüte ist ein Organ der Pflanze und negiert als solches ebenso wenig die Pflanze, wie Herrn Michailowskis Kopf Herrn Michailowski negiert. Die „Frucht“ aber, genauer gesagt, das befruchtete Ei, ist als Ausgangspunkt der Entwicklung neuen Lebens wirklich eine Negation des bestimmten Organismus. So betrachtet Engels den Lebenslauf der Pflanze vom Beginn ihrer Entwicklung aus dem befruchteten Ei bis zur Reproduktion des befruchteten Eis durch diese Pflanze. Herr Michailowski bemerkt mit der gelehrten Miene eines Kenners, „das Leben der Pflanze beginnt nicht mit dem Samen. Wir wissen heute sehr gut“ und so fort – kurz gesagt, wir wissen jetzt, dass das Ei während der Blüte befruchtet wird. Engels weiß das natürlich nicht weniger gut als Herr Michailowski. Was folgt aber daraus? Wenn es Herr Michailowski wünscht, ersetzen wir das Korn durch das befruchtete Ei, doch das wird den Sinn des Lebenslaufs der Pflanze nicht verändern, wird die „Triade“ nicht widerlegen. Der Hafer wird dennoch „nach Hegel“ wachsen.

Nebenbei. Nehmen wir für einen Augenblick an, „das Moment der Blüte“ widerlege alle Argumente der Hegelianer. Wie soll man dann mit den blütenlosen Pflanzen nach der Vorschrift des Herrn Michailowski verfahren? Sollen diese doch im Machtbereich der Triade bleiben? Das wäre sehr bedauerlich, da die Triade in diesem Fall noch über eine ungeheure Zahl von Untertanen verfügen würde.

Diese Frage stellen wir eigentlich nur, um uns über den Gedanken des Herrn Michailowski klarzuwerden. Wir selbst bleiben aber bei der Überzeugung, dass man selbst mit Hilfe der „Blüte“ nicht von der Triade loskommt. Denken denn nur wir so? Folgendes sagt dazu zum Beispiel der Botaniker Ph. Van-Tieghem: „Wie auch die Form der Pflanze sei, zu welcher Gruppe sie auch gehören mag, dank dieser Form stammt ihr Körper von einem anderen Körper ab, der früher als sie existierte und von dem sie sich abgeteilt hat. Ihrerseits teilt sie von ihrem Körper zu bestimmten Zeiten bestimmte Teile ab, die zum Ausgangspunkt, zum Keim neuer Körper werden, usw. Mit einem Wort, sie wird ebenso reproduziert wie auch geboren: ‚durch Dissoziation‘.“ [M] Bitte sehr! Ein ehrwürdiger Gelehrter, Mitglied des Instituts, Professor am Museum für Naturgeschichte, spricht genau wie ein Hegelianer: Es beginnt mit der Dissoziation, so sagt er, und es endet wieder damit. Kein Wort über „das Moment der Blüte“! Wir verstehen selbst, wie bedauerlich das für Herrn Michailowski sein muss; es lässt sich aber dagegen nichts machen – die Wahrheit steht bekanntlich über Plato.

Nehmen wir noch einmal an, „das Moment der Blüte“ widerlege die Triade. Dann „erhalten wir, wenn wir Hegels Terminologie beibehalten, keine Trichotomie, sondern mindestens eine Tetrachotomie, eine Vierteiligkeit“. „Hegels Terminologie“ erinnert uns an seine Enzyklopädie. Wir schlagen ihren ersten Teil auf und erfahren, dass es viele Fälle gibt, bei denen die Trichotomie in eine Tetrachotomie übergeht und dass das Trichotomische eigentlich auf dem Gebiet des Geistes vorherrscht. [N] So sieht man, dass der Hafer „nach Hegel“ wächst, wie uns Van-Tieghem versichert, Hegel aber über den Hafer nach Herrn Michailowski denkt, wie es die „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ bestätigt. Wunder über Wunder! „Sie zu ihm, er zu mir, ich aber zum Schankdiener Petruscha.“ [12]

Ein anderes Beispiel, das Herr Michailowski zwecks Belehrung der „Nichteingeweihten“ bei Engels entlehnt hat, betrifft die Lehre Rousseaus.

„Nach Rousseau waren die Menschen im Zustand der Natur und der Wildheit gleich, wie die Tiere gleich sind. Der Mensch zeichnet sich durch die Fähigkeit zur Vervollkommnung aus, und diese Vervollkommnung begann mit dem Entstehen der Ungleichheit, wonach jeder weitere Schritt der Zivilisation antagonistisch war: ‚Alle weiteren Fortschritte waren ebenso viel Schritte scheinbar zur Vervollkommnung des Einzelmenschen, in der Tat aber zum Verfall der Gattung ... Die Metallbearbeitung und der Ackerbau waren die beiden Künste, deren Erfindung diese große Revolution hervorrief ... Für den Dichter haben Gold und Silber, für den Philosophen haben Eisen und Korn die Menschen zivilisiert und das Menschengeschlecht ruiniert.‘ Die Ungleichheit entwickelt sich weiter und verwandelt sich, nachdem sie ihren Höhepunkt erreicht hat, in den östlichen Despotien wieder in die allgemeine Gleichheit der allgemeinen Nichtigkeit, das heißt, sie kehrt zu ihrem Ausgangspunkt zurück, wonach der weitere Prozess auf gleiche Art zur Gleichheit des Gesellschaftsvertrags führt.“ [13]

So gibt Herr Michailowski das von Engels angeführte Beispiel wieder. Und, wie es sich von selbst versteht, auch das „kann er bestreiten“.

„Man könnte zu Engels’ Darstellung einiges bemerken; für uns ist es aber nur von Wichtigkeit, zu wissen, was in Rousseaus Traktat («Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes») von Engels geschätzt wird. Er berührt nicht die Frage, ob Rousseau den Ablauf der Geschichte richtig oder falsch auffasse, er interessiert sich nur dafür, dass Rousseau ‬ ‚dialektisch denkt‘: er erblickt im Inhalt des Fortschritts selbst einen Widerspruch und richtet seine Darstellung so ein, dass sie der Hegelschen Formel der Negation und der Negation der Negation angepasst werden kann. Das kann man tatsächlich, obwohl Rousseau die dialektische Formel Hegels nicht kannte.“

Das ist nur der erste Angriff, der Vorpostenüberfall auf das „ Hegelianertum“ in der Person Engels’. Weiter folgt ein Angriff sur toute la ligne. [14]

„Rousseau dachte, ohne Hegel zu kennen, dialektisch nach Hegel. Warum gerade Rousseau, warum nicht Voltaire, warum nicht der erste beste? Weil alle Menschen von Haus aus dialektisch denken. Gewählt wurde jedoch Rousseau, ein Mann, der von seinen Zeitgenossen nicht nur durch seine Fähigkeiten deutlich abstach – in dieser Hinsicht standen ihm viele nicht nach –, sondern vor allem durch seine Denkart und durch den Charakter seiner Weltanschauung. Eine derartige Ausnahmeerscheinung durfte wohl nicht zur Überprüfung einer allgemeinen Regel gewählt werden. Doch wir handeln, wie wir es für richtig halten. Rousseau ist vor allem dadurch interessant und bedeutsam, dass er als erster mit ausreichender Deutlichkeit den Widerspruch der Zivilisation zeigte; der Widerspruch ist aber die unumgängliche Bedingung des dialektischen Prozesses. Man muss jedoch bemerken, dass der von Rousseau festgestellte Widerspruch mit dem Widerspruch im Hegelschen Sinne dieses Wortes nichts gemein hat. Hegels Widerspruch besteht darin, dass jedes Ding in ständigem Prozess der Bewegung, der Veränderung begriffen (und zwar folgerichtig auf dreifachem Wege), in jedem gegebenen Zeitpunkt ‚es‘ und zugleich ‚nicht es‘ ist. Wenn man die drei unbedingten Entwicklungsstadien fortlässt, erscheint der Widerspruch hier einfach als eine Art Kehrseite der Veränderungen, der Bewegung, der Entwicklung. Auch Rousseau spricht über den Prozess der Veränderungen. Doch er erblickt den Widerspruch keineswegs in der Tatsache der Veränderungen selbst. Ein bedeutender Teil seiner Ausführungen sowohl im «Discours de l’inégalité» als auch in anderen Werken kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Der geistige Fortschritt wird vom sittlichen Rückschritt begleitet. Offenkundig hat das dialektische Denken damit absolut nichts zu tun; hier ist keine ‚Negation der Negation‘, sondern nur ein Hinweis auf die gleichzeitige Existenz von Gut und Böse in der gegebenen Gruppe der Erscheinungen vorhanden, und die ganze Übereinstimmung mit dem dialektischen Vorgang basiert auf dem Wort ‚Widerspruch‘. Das ist jedoch nur die eine Seite der Angelegenheit. Engels erblickt außerdem in den Ausführungen Rousseaus eine offensichtliche Trichotomie: Der primitiven Gleichheit folgt ihre Negation, die Ungleichheit; danach tritt die Negation der Negation auf, die Gleichheit aller in östlichen Despotien gegenüber der Macht des Khans, des Sultans, des Schahs. ‚Hier ist der äußerste Grad der Ungleichheit, der Endpunkt, der den Kreis schließt und den Punkt berührt, von dem wir ausgegangen sind.‘ Doch bleibt die Geschichte dabei nicht stehen, sie entwickelt neue Ungleichheiten usw. Die in Anführungsstriche gesetzten Worte sind Originalworte Rousseaus, und gerade sie sind Engels besonders teuer als offensichtliches Zeugnis dessen, dass Rousseau nach Hegel dachte.“ [O]

Rousseau „stach von seinen Zeitgenossen deutlich ab“. Das stimmt. Wodurch aber? Dadurch, dass er dialektisch dachte, während seine Zeitgenossen fast durch die Bank Metaphysiker waren. Seine Ansicht von der Herkunft der Ungleichheit ist gerade eine dialektische Ansicht, wenngleich Herr Michailowski das leugnet.

Nach den Worten des Herrn Michailowski hat Rousseau nur darauf hingewiesen, dass der geistige Fortschritt in der Geschichte der Zivilisation vom sittlichen Rückschritt begleitet werde. Nein, nicht nur darauf hingewiesen hat Rousseau. Bei ihm erscheint der geistige Fortschritt als Ursache des sittlichen Rückschritts. Davon könnte man sich überzeugen, auch ohne Rousseaus Werke zu lesen; es würde genügen, sich auf Grund des vorigen Zitats daran zu erinnern, welche Rolle bei ihm die Bearbeitung der Metalle und die Bodenbearbeitung spielen, die eine große Revolution hervorriefen und die primitive Gleichheit zerstörten. Wer aber Rousseau selbst gelesen hat, der hat folgende Stelle aus seinem «Discours sur l’origine de l’inégalité» natürlich nicht vergessen:

«Il me reste à considérer et à rapprocher les différents hasards qui ont pu perfectionner la raison humaine en détériorant l’espèce, rendre un être méchant en le rendant sociable ...» („Es bleibt mir nur übrig, jene verschiedenen Zufälle, die den Menschenverstand vervollkommnen konnten, wobei sie das Übel in das Menschengeschlecht hinein trugen, dieses Tier böse und sozial machten, zu bewerten und zu verbinden ...“)

Diese Stelle ist dadurch besonders bemerkenswert, dass sie Rousseaus Ansicht von der Fähigkeit der Menschheit zum Fortschritt sehr gut erhellt. Über diese Eigenschaft sprachen auch seine „Zeitgenossen“ nicht wenig. Bei ihnen erscheint sie jedoch als eine geheimnisvolle Kraft, die aus sich selbst heraus die Erfolge der Vernunft schafft. Nach Rousseau „konnte sich“ diese Fähigkeit „niemals von selbst entwickeln“. Sie bedurfte zu ihrer Entwicklung ständiger Impulse von außen. Das ist eine der wichtigsten Eigenarten der dialektischen Ansicht vom geistigen Fortschritt im Vergleich zur metaphysischen. Wir werden im Weiteren noch darauf zu sprechen kommen. Im Augenblick ist es für uns von Bedeutung, dass die zitierte Stelle die Ansicht Rousseaus vom Kausalzusammenhang des ‚sittlichen Rückschritts mit dem geistigen Fortschritt äußerst klar ausdrückt. [P] Das ist aber außerordentlich wichtig, um die Ansicht dieses Schriftstellers vom Verlauf der Zivilisation zu klären. Bei Herrn Michailowski ist es so dargestellt, als habe Rousseau nur einfach auf den „Widerspruch“ hingewiesen und vielleicht noch einige edle Tränen darob vergossen. Tatsächlich aber hielt Rousseau diesen Widerspruch für die wichtigste Triebfeder der historischen Entwicklung der Zivilisation. Der Begründer der zivilisierten Gesellschaft und folglich der Totengräber der primitiven Gleichheit war jener Mann, der ein Stück Land einzäunte und sagte: „Es gehört mir“; anders gesagt, die Grundlage der zivilisierten Gesellschaft ist das Eigentum, das soviel Streit unter den Menschen verursacht, soviel Gier in ihnen erweckt, ihre Moral so sehr verdirbt. Die Entstehung des Eigentums setzte aber die Entwicklung „der Technik und des Wissens“ (de l’industrie et des lumières) voraus. Somit gingen die primitiven Verhältnisse gerade infolge dieser Entwicklung unter; zu jenem Zeitpunkt aber, da diese Entwicklung zum Triumph des Privateigentums führte, hatten die primitiven Beziehungen der Menschen ihrerseits bereits einen Zustand erreicht, der ihre weitere Existenz unmöglich machte. [Q] Wenn man Rousseau danach beurteilt, wie Herr Michailowski den von ihm gezeigten „Widerspruch“ darstellt, könnte man meinen, der berühmte Genfer sei nicht mehr gewesen als ein weinerlicher „subjektiver Soziologe“, der bestenfalls eine hochmoralische „Formel des Fortschritts“ erfinden konnte, um mit ihrer Hilfe die menschlichen Nöte zu verarzten. In Wirklichkeit aber hasste Rousseau nichts mehr als gerade derartige „Formeln“ und entkräftete sie jedes Mal, wenn sich Gelegenheit dazu bot.

Die zivilisierte Gesellschaft erwuchs auf den Trümmern der primitiven Beziehungen, die sich zur Fortexistenz als unfähig erwiesen hatten. Diese Beziehungen enthielten den Keim ihrer eigenen Negation. Beim Beweis dieser These veranschaulicht Rousseau gewissermaßen im Voraus Hegels Gedanken: Jede Erscheinung vernichtet sich selbst, verwandelt sich in ihr Gegenteil. Rousseaus Ausführungen über den Despotismus können als eine weitere Veranschaulichung dieses Gedankens angesehen werden.

Beurteilen Sie selbst, wie viel Verständnis für Hegel und Rousseau Herr Michailowski zeigt, wenn er sagt: „Das dialektische Denken hat damit absolut nichts zu tun“, und in seiner naiven Art meint, Engels habe Rousseau willkürlich nur deshalb dem dialektischen Ressort zugeteilt, weil dieser die Ausdrücke „Widerspruch“, „Kreis“, „Rückkehr zum Ausgangspunkt“ usw. benutzte.

Warum aber hat sich Engels auf Rousseau berufen und nicht auf jemand anders? „Warum gerade Rousseau, warum nicht Voltaire, warum nicht der erste beste? Weil alle Menschen von Haus aus dialektisch denken ...“

Sie irren sich, Herr Michailowski, längst nicht alle: Engels würde besonders Sie nie für einen Dialektiker gehalten haben. Es hätte ihm genügt, Ihren Aufsatz „Karl Marx vor dem Tribunal des Herrn J. Schukowski“ zu lesen, um Sie unwiderruflich unter die unverbesserlichen Metaphysiker einzureihen.

Über das dialektische Denken sagt Engels: „Die Menschen haben dialektisch gedacht lange ehe sie wussten, was Dialektik war, ebenso wie sie schon Prosa sprachen lange bevor der Ausdruck Prosa bestand. Das Gesetz der Negation der Negation, das sich in der Natur und Geschichte, und bis es einmal erkannt ist, auch in unsern Köpfen unbewusst vollzieht, ist von Hegel nur zuerst scharf formuliert worden.“ [R] Wie der Leser sieht, handelt es sich hier um das unbewusste dialektische Denken, von dem es noch ein weiter Schritt bis zum bewussten ist. Wenn wir sagen: „Extreme berühren sich“, so äußern wir, ohne es selbst zu wissen, eine dialektische Ansicht von den Dingen; wenn wir uns bewegen, so treiben wir, ohne es zu ahnen, angewandte Dialektik (wir haben oben schon gesagt, dass die Bewegung ein realisierter Widerspruch ist). Aber weder Bewegung noch dialektische Aphorismen retten uns vor der Metaphysik auf dem Gebiet des systematischen Denkens. Im Gegenteil. Die Geschichte des Denkens zeigt, dass die Metaphysik auf Kosten der ursprünglichen, naiven Dialektik im Verlauf geraumer Zeit mehr und mehr erstarkte und immer mehr erstarken musste.

„Die Zerlegung der Natur in ihre einzelnen Teile, die Sonderung der verschiedenen Naturvorgänge und Naturgegenstände in bestimmte Klassen, die Untersuchung des Innern der organischen Körper nach ihren mannigfachen anatomischen Gestaltungen war die Grundbedingung der Riesenfortschritte, die die letzten 400 Jahre uns in der Erkenntnis der Natur gebracht. Aber sie hat uns ebenfalls die Gewohnheit hinterlassen, die Naturdinge und Naturvorgänge in ihrer Vereinzelung, außerhalb des großen Gesamtzusammenhangs aufzufassen; daher nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand, nicht als wesentlich veränderliche, sondern als feste Bestände, nicht in ihrem Leben, sondern in ihrem Tod. Und indem, wie dies durch Bacon und Locke geschah, diese Anschauungsweise aus der Naturwissenschaft sich in die Philosophie übertrug, schuf sie die spezifische Borniertheit der letzten Jahrhunderte, die metaphysische Denkweise.“

So spricht Engels [a], von dem wir auch erfahren:

„Die neuere Philosophie dagegen, obwohl auch in ihr die Dialektik glänzende Vertreter hatte (zum Beispiel Descartes und Spinoza), war besonders durch englischen Einfluss mehr und mehr in der sogenannten metaphysischen Denkweise festgefahren, von der auch die Franzosen des 18. Jahrhunderts, wenigstens in ihren speziell philosophischen Arbeiten, fast ausschließlich beherrscht wurden. Außerhalb der eigentlichen Philosophie waren sie ebenfalls imstande, Meisterwerke der Dialektik zu liefern; wir erinnern nur an Rameaus Neffen von Diderot und die Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen von Rousseau.“ [b]

Es ist nun wohl klar, warum Engels Rousseau erwähnt und nicht Voltaire oder den ersten besten. Wir haben nicht gewagt anzunehmen, dass Herr Michailowski jenes Werk von Engels, das er zitiert und dem er die untersuchten „Beispiele“ entnimmt, nicht gelesen habe. Wenn aber Herr Michailowski Engels mit „dem ersten besten“ belästigt, muss man schon vermuten, dass unser Verfasser auch hier das uns bereits bekannte „Moment“ der Unterstellung, das „Moment“ ... einer zweckmäßigen Verfälschung der Worte seines Gegners anwendet. Die Ausbeutung dieses „Moments“ mochte ihm besonders bequem erscheinen, weil Engels’ Werk nicht ins Russische übersetzt ist und für Leser, die nicht Deutsch können, nicht existiert. Auch hier „handeln wir, wie wir es für richtig halten“. Hier liegt eine neue Versuchung vor, und uns „geht die Treue leicht verloren, ob wir es wollen oder nicht“.

„Der Schönheit werden wir nicht froh, Die Männer wollen uns erjagen Und auch die Götter ebenso.“ [S]

Erholen wir uns jedoch erst einmal von Herrn Michailowski. Kehren wir zu den deutschen Idealisten {an und für sich} zurück. Wir sagten, die Naturphilosophie war eine schwache Seite dieser Denker, deren Hauptverdienst man auf verschiedenen Gebieten der Philosophie und Geschichte suchen müsse. Jetzt wollen wir hinzufügen, dass es zu jener Zeit auch nicht anders sein konnte. Die Philosophie, die sich die Wissenschaft der Wissenschaften nannte, hatte stets recht viel „weltlichen Inhalt“, dass heißt, sie befasste sich immer mit vielen eigentlich wissenschaftlichen Fragen. Ihr „weltlicher Inhalt“ war jedoch zu verschiedenen Zeiten verschieden. So befassten sich – um uns auf Beispiele aus der Geschichte der neuen Philosophie zu beschränken – die Philosophen im 17. Jahrhundert vorzugsweise mit Fragen der Mathematik und der Naturwissenschaften. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts nutzte die naturwissenschaftlichen Entdeckungen und Theorien der vorangegangenen Epoche für ihre Zwecke aus, sie selbst aber betrieb Naturwissenschaften vielleicht nur in der Person Kants; in Frankreich waren damals gesellschaftliche Fragen in den Vordergrund getreten. Die gleichen Fragen beschäftigten im Wesentlichen auch die Philosophen des 19. Jahrhunderts, wenn auch von einer anderen Seite her. So sagte Schelling zum Beispiel geradeheraus, er betrachte das Problem gerade des Hauptcharakters der Geschichte als das höchste Problem der Transzendentalphilosophie. Was das für ein Problem war, werden wir bald sehen.

Wenn alles fließt und alles sich verändert, wenn jede Erscheinung sich selbst negiert, wenn es keine nützliche Einrichtung gibt, die nicht schließlich schädlich wird, indem sie sich so in ihr eigenes Gegenteil verwandelt; dann – so folgt daraus – ist es unsinnig, die „vollkommene Gesetzgebung“ zu suchen, da es unmöglich ist, einen Gesellschaftsaufbau zu finden, der für alle Zeiten und Völker der beste ist; alles ist nur an seinem Platz und zu seiner Zeit gut. Das dialektische Denken schloss jede Utopie aus.

Das dialektische Denken musste sie schon deshalb ausschließen, weil die „menschliche Natur“, dieses angeblich konstante Kriterium, das, wie wir sahen, sowohl von den Aufklärern des 18. Jahrhunderts als auch von den utopischen Sozialisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unentwegt benutzt wurde, dem allgemeinen Geschick aller Erscheinungen verfiel: sie wurde als veränderlich erkannt.

Damit verschwand auch jene naiv-idealistische Ansicht von der Geschichte, die ebenfalls sowohl die Aufklärer als auch die Utopisten vertraten und die in den Worten ihren Ausdruck fand: Die Vernunft, die Ansichten regieren die Welt. Natürlich lenkt die Vernunft die Geschichte, sagt Hegel, jedoch in dem gleichen Sinne, wie sie die Bewegung der Himmelskörper lenkt, das heißt im Sinne der Gesetzmäßigkeit. Die Bewegung der Himmelskörper ist gesetzmäßig, doch haben sie selbstverständlich selber keine Vorstellung von dieser Gesetzmäßigkeit. Das gleiche trifft auch auf die historische Bewegung der Menschheit zu. Sie hat zweifelsohne ihre eigenen Gesetze; das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Menschen ihrer bewusst und somit die menschliche Vernunft, unser Wissen, unsere „Philosophie“ die Hauptfaktoren der historischen Bewegung sind. Minervas Eule beginnt erst nachts zu fliegen. Wenn die Philosophie ihre grauen Muster auf grauem Hintergrund zu zeichnen beginnt, wenn die Menschen anfangen, über ihre Gesellschaftsordnung nachzudenken, dann können Sie mit Sicherheit sagen, dass sich diese Ordnung überlebt hat und sich nun anschickt, ihre Stelle einer neuen Ordnung abzutreten, deren wahrer Charakter den Menschen wiederum nur klar wird, wenn sie ihre historische Rolle erfüllt haben wird: Minervas Eule wird sich wieder nur nachts zum Flug erheben. [T] Es ist überflüssig zu sagen, dass die periodischen Luftreisen des weisen Vogels höchst nützlich sind; sie sind sogar unbedingt notwendig. Aber sie erklären absolut nichts; sie selber bedürfen einer Erklärung und sind sicherlich auch erklärbar, denn sie haben ihre eigene Gesetzmäßigkeit.

Die Anerkennung der Gesetzmäßigkeit in den Flügen der Eule Minervas war die Grundlage einer völlig neuen Ansicht von der Geschichte der geistigen Entwicklung der Menschheit. Wenn sich die Metaphysiker aller Zeiten, aller Völker und aller Richtungen erst ein philosophisches System zu Eigen gemacht hatten, dann hielten sie es für wahr, alle übrigen Systeme aber für unbedingt falsch. Sie kannten nur den abstrakten Gegensatz zwischen den abstrakten Begriffen Wahrheit und Irrtum. Darum war die Geschichte des Denkens für sie nur eine chaotische Verflechtung teils trauriger, teils lächerlicher Fehler, deren wilder Reigen bis zu jenem seligen Augenblick andauere, da schließlich das wahre philosophische System erdacht werde. Diese Anschauung von der Geschichte seiner Wissenschaft hatte noch J. B. Say, dieser Metaphysiker unter den Metaphysikern. Er empfahl, sie nicht zu studieren, da sie nichts als Irrtümer enthalte. Die idealistischen Dialektiker sahen die Sache anders. Die Philosophie ist der geistige Ausdruck der Zeit, sagten sie; jede Philosophie ist für ihre Zeit wahr und für eine andere irrig.

Wenn aber die Vernunft die Welt nur im Sinne der Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen regiert, wenn nicht die Ideen, nicht das Wissen, nicht die „Aufklärung“ die Menschen in ihrem, man könnte wohl sagen, gesellschaftlichen Hausbau und in der historischen Bewegung leitet: Wo bleibt dann die menschliche Freiheit? Wo ist jenes Gebiet, auf dem der Mensch „urteilt und wählt“, ohne sich, wie ein Kind, an müßiger Kurzweil zu ergötzen und ohne ein Spielzeug in den Händen einer ihm fremden, wenn vielleicht auch nicht blinden Kraft zu sein?

Die Idealisten des 19. Jahrhunderts sahen sich vor das alte, aber ewig neue Problem von Freiheit und Notwendigkeit gestellt, genau wie die Metaphysiker des vorangegangenen Jahrhunderts und wie buchstäblich alle Philosophen, die sich mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Sein und Denken befassten. Wie die Sphinx sprach dieses Problem zu jedem dieser Denker: Enträtsele mich, oder ich verschlinge dein System!

Das Problem von Freiheit und Notwendigkeit war eben das Problem, dessen Lösung, angewandt auf die Geschichte, Schelling für das höchste Problem der Transzendentalphilosophie hielt. Hat diese Philosophie es gelöst, und wie hat sie es gelöst?

Und beachten Sie: Für Schelling wie für Hegel bereitete dieses Problem Schwierigkeiten gerade bei der Anwendung auf die Geschichte ... Vom rein anthropologischen Standpunkt konnte es bereits als gelöst angesehen werden.

Hierzu ist eine Erklärung notwendig, und wir lassen sie folgen, wobei wir den Leser bitten, ihr in Anbetracht der gewaltigen Bedeutung dieses Gegenstandes die erforderliche Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Magnetnadel wendet sich nach Norden. Das geschieht kraft der Wirkung eines besonderen Stoffes, der selbst gewissen Gesetzen unterliegt: den Gesetzen der materiellen Welt. Die Nadel bemerkt nicht die unmerklichen Bewegungen der magnetischen Materie, sie hat von ihnen nicht die geringste Vorstellung. Sie glaubt sich unabhängig von jeder äußeren Ursache nach Norden zu drehen, als ob sie einfach Vergnügen darin finde, sich dorthin zu drehen. Die materielle Notwendigkeit erscheint ihr als ihre eigene freie Geistestätigkeit. [15]

An diesem Beispiel wollte Leibniz seine Ansicht von der Willensfreiheit erläutern. Und mit einem ähnlichen Beispiel erklärt Spinoza seine völlig identische Ansicht.

Eine bestimmte äußere Ursache hat dem Stein ein bestimmtes Maß an Bewegung mitgeteilt. Die Bewegung setzt sich natürlich noch eine gewisse Zeit lang fort, auch wenn die Ursache zu wirken aufgehört hat. Diese Fortsetzung der Bewegung ist gemäß den Gesetzen der materiellen Welt notwendig. Nun stellen Sie sich vor, der Stein denke, er werde sich seiner Bewegung, die ihm Vergnügen bereitet, bewusst; er kennt aber ihre Ursache nicht, er weiß nicht einmal, dass es für ihn überhaupt eine äußere Ursache gibt. Wie stellt sich der Stein in diesem Falle seine eigene Bewegung vor? Unbedingt als das Ergebnis seines eigenen Willens, seiner eigenen freien Wahl; er wird sich sagen: Ich bewege mich, weil ich mich bewegen will.

„Derart ist auch jene menschliche Freiheit, auf die alle Menschen so stolz sind. Ihr Wesen geht darauf zurück, dass die Menschen sich ihrer Bestrebungen bewusst sind, jedoch nicht die Ursachen kennen, die diese Bestrebungen hervorrufen. So bildet sich das Kind ein, es wolle frei jene Milch, die seine Nahrung ist ...“

Vielen, selbst modernen Lesern, wird diese Erklärung als „grob materialistisch“ erscheinen, und sie werden staunen, wie Leibniz, ein Idealist reinsten Wassers, sie geben konnte. Sie werden auch noch erwidern, ein Vergleich sei überhaupt kein Beweis, und noch weniger beweiskräftig sei ein fantastischer Vergleich des Menschen mit einer Magnetnadel oder mit einem Stein. Dazu wollen wir bemerken, dass dieser Vergleich aufhört fantastisch zu sein, sobald wir an Erscheinungen denken, die tagtäglich im menschlichen Gehirn vor sich gehen. Schon die Materialisten des 18. Jahrhunderts haben darauf hingewiesen, dass jeder Willensregung im Gehirn eine gewisse Tätigkeit der Hirnfasern entspricht. Was hinsichtlich der Magnetnadel oder des Steins Phantasie ist, wird zur unbestreitbaren Tatsache hinsichtlich des Gehirns; die nach den schicksalhaften Gesetzen der Notwendigkeit verlaufende Bewegung der Materie wird hier tatsächlich zu dem, was man als freie Gedankentätigkeit bezeichnet. Was jedoch das auf den ersten Blick recht natürlich erscheinende Staunen über die materialistischen Ausführungen des Idealisten Leibniz betrifft, so muss man bedenken, dass – wie wir schon sagten – alle konsequenten Idealisten Monisten waren, das heißt, dass in ihrer Weltanschauung kein Platz für jenen unüberbrückbaren Abgrund war, der die Materie entsprechend den Ansichten der Dualisten vom Geist trennt. Nach Ansicht des Dualisten kann ein bestimmtes Aggregat der Materie nur in dem Falle zum Denken befähigt sein, dass ein Teilchen des Geistes in ihn eingegangen ist; Materie und Geist sind in den Augen des Dualisten zwei völlig selbständige Substanzen, die miteinander nichts gemein haben. Leibniz‘ Vergleich erscheint ihm als unsinnig aus dem einfachen Grunde, weil die Magnetnadel keine Seele hat. Stellen Sie sich aber vor, Sie haben es mit einem Menschen zu tun, der folgendermaßen denkt: Die Nadel ist etwas durchaus Materielles. Was ist aber die Materie selbst? Ich glaube, sie verdankt ihre Existenz dem Geist, und zwar nicht in dem Sinne, dass sie vom Geist geschaffen ist, sondern in jenem, dass sie selbst ebenfalls der gleiche Geist ist, der nur in einer anderen Form existiert. Diese Form entspricht nicht seiner wahren Natur, sie ist ihr sogar direkt entgegen gesetzt, doch hindert sie das nicht, eine Existenzform des Geistes zu sein, da sich der Geist, seinem Wesen entsprechend, in sein eigenes Gegenteil verwandeln muss. – Sie können auch über diese Gedankengänge staunen, Sie müssen aber in jedem Falle zugeben, dass sich ein Mensch, der sie für überzeugend hält, dass sich ein Mensch, der in der Materie nur ein „Anderssein des Geistes“ erblickt, dass er sich durch Erklärungen nicht in Verlegenheit bringen lässt, die der Materie Funktionen des Geistes zuschreiben oder diese Funktionen in eine enge Bindung zu den Gesetzen der Materie bringen. Dieser Mensch kann eine materialistische Erklärung psychischer Erscheinungen gelten lassen und ihr gleichzeitig (bedingt oder unbedingt – das ist eine andere Frage) eine streng idealistische Deutung geben. So verfuhren auch die deutschen Idealisten.

Die psychische Tätigkeit des Menschen unterliegt den Gesetzen der materiellen Notwendigkeit. Doch zerstört das nicht im Mindesten die menschliche Freiheit. Die Gesetze der materiellen Notwendigkeit sind selbst nichts anderes als Gesetze der Geistestätigkeit. Freiheit setzt Notwendigkeit voraus, Notwendigkeit geht voll und ganz in Freiheit über; und darum ist die Freiheit des Menschen in Wirklichkeit unvergleichlich größer, als die Dualisten es annehmen, die die freie Tätigkeit von der notwendigen trennen wollen und dadurch den gesamten, ihrer Ansicht nach sehr weiten, der Notwendigkeit zugewiesenen Bereich vom Reich der Freiheit losreißen.

So dachten die idealistischen Dialektiker. Wie der Leser sieht, hielten sie an Leibniz‘ „Magnetnadel“ ernstlich fest; nur verwandelte sich diese Nadel in ihren Händen völlig, sie vergeistigte sich sozusagen.

Die Verwandlung der Nadel löste jedoch noch nicht alle mit der Frage des Verhältnisses zwischen Freiheit und Notwendigkeit verbundenen Schwierigkeiten. Nehmen wir an, der einzelne Mensch sei, ungeachtet seiner Unterordnung unter die Gesetze der Notwendigkeit – mehr noch, gerade infolge dieser Unterordnung –, völlig frei. In der Gesellschaft und folglich auch in der Geschichte haben wir es aber nicht mit einem Individuum zu tun, sondern mit einer ganzen Masse von Individuen. Es fragt sich, wird denn die Freiheit des einzelnen nicht durch die Freiheit der übrigen gestört? Ich habe die Absicht, dieses oder jenes zu tun, zum Beispiel die Wahrheit und die Gerechtigkeit in den gesellschaftlichen Verhältnissen zu verwirklichen. Das ist meine frei gewählte Absicht, und nicht weniger frei werden meine Handlungen sein, mit deren Hilfe ich diese Absicht zu verwirklichen versuchen werde. Aber meine Mitmenschen hindern mich an der Verfolgung meines Ziels. Sie widersetzen sich meiner Absicht ebenso frei, wie ich diese Absicht gefasst habe. Und ebenso frei sind ihre gegen mich gerichteten Handlungen. Wie werde ich die von ihnen errichteten Hindernisse überwinden? Natürlich werde ich mit ihnen diskutieren, sie zu überzeugen versuchen, sie vielleicht sogar anflehen oder ihnen drohen. Wie soll ich aber wissen, ob das zu etwas führen wird? Die französischen Aufklärer sagten: «La raison finira par avoir raison.» [16] Damit aber meine Vernunft siegen könne, müssen meine Mitmenschen sie auch als die ihre anerkennen. Welchen Anlass habe ich aber, darauf zu hoffen? Da ihre Handlungsweise frei ist – und sie ist völlig frei –, da die materielle Notwendigkeit auf mir unbekannten Wegen in Freiheit übergegangen ist – und das hat sie ja entsprechend der Annahme getan –, entgleitet die Handlungsweise meiner Mitbürger völlig meiner Voraussicht. Ich könnte hoffen, sie nur unter der Bedingung vorauszusehen, dass ich sie so betrachten dürfe, wie ich alle übrigen Erscheinungen meiner Umwelt betrachte, nämlich als notwendige Wirkungen bestimmter Ursachen, die mir schon bekannt sind oder die ich kennenlernen kann. Anders gesagt, meine Freiheit wäre nur dann kein leeres Wort, wenn ihr Bewusstsein von einem Verstehen der Ursachen, die die freien Handlungen meiner Mitmenschen hervorrufen, begleitet wäre, das heißt, wenn ich diese hinsichtlich ihrer Notwendigkeit betrachten könnte. Genau das gleiche können meine Mitmenschen von meinen Handlungen sagen. Was hat das aber zu bedeuten? Das bedeutet, dass die Möglichkeit einer freien (bewussten) historischen Betätigung einer Person gleich Null wird, wenn den freien menschlichen Handlungen nicht eine dem Verständnis des Handelnden zugängliche Notwendigkeit zugrunde liegt.

Wir sahen, dass der metaphysische französische Materialismus eigentlich zum Fatalismus führte. Tatsächlich, wenn das Schicksal eines ganzen Volkes von einem einzigen verirrten Atom abhängt, dann können wir nur noch die Hände in den Schoß legen, da wir ja keineswegs imstande sind und nie imstande sein werden, solche Eskapaden einzelner Atome vorauszusehen oder zu verhindern.

Wir sehen jetzt, dass der Idealismus zu dem gleichen Fatalismus führen kann. Wenn die Handlungen meiner Mitbürger nichts Notwendiges enthalten oder wenn sie hinsichtlich ihrer Notwendigkeit meinem Verständnis nicht zugänglich sind, dann kann ich nur noch auf die gute Vorsehung bauen: Meine vernünftigsten Pläne, meine edelsten Absichten werden an völlig unvorgesehenen Handlungen von Millionen anderer Menschen zerschellen. Dann kann, nach einem Ausdruck von Lucretius, aus allem alles werden.

Interessant ist auch, dass der Idealismus, je mehr er es unternähme, die Freiheit in der Theorie zu vertreten, desto mehr genötigt wäre, sie auf dem Gebiet der praktischen Tätigkeit zunichte werden zu lassen, wo er mit dem Zufall, der mit der ganzen Macht der Freiheit ausgestattet ist, nicht mehr fertig werden könnte.

Das begriffen die idealistischen Dialektiker sehr gut. In ihrer praktischen Philosophie erscheint die Notwendigkeit als das sicherste, als das einzige Unterpfand der Freiheit. Selbst die sittliche Pflicht kann mir nicht gebieten, in Ansehung der Folgen meiner Handlungen ganz ruhig zu sein, sagte Schelling, wenn diese Folgen nur von meiner Freiheit abhängig sind. „Freiheit soll Notwendigkeit, Notwendigkeit Freiheit sein.“

Von welcher Notwendigkeit kann denn in diesem Falle eigentlich die Rede sein? Die ständige Wiederholung des Gedankens, dass gewisse Willensregungen notwendigerweise gewissen Bewegungen der Gehirnsubstanz entsprechen, wird mir kaum viel Trost bringen.

Auf solchen abstrakten Sätzen kann man keine praktischen Berechnungen aufbauen, und weiter kann ich auch in dieser Richtung nicht gehen, denn der Kopf meines Nächsten ist kein gläserner Bienenstock und seine Gehirnfasern sind keine Bienen, und ich kann ihre Tätigkeit selbst in dem Fall nicht beobachten, da ich bestimmt wüsste – und davon sind wir noch weit entfernt –, dass nach dieser Tätigkeit dieser bestimmten Nervenfaser diese Absicht in der Seele meines Mitbürgers aufkommen wird. Folglich muss man die Untersuchung der Notwendigkeit der menschlichen Handlungen von einer anderen Seite her in Angriff nehmen.

Das ist umso notwendiger, weil Minervas Eule, wie wir wissen, erst abends ausfliegt, das heißt, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen nicht die Frucht ihrer bewussten Tätigkeit sind. Bewusst verfolgen die Menschen ihre privaten, persönlichen Ziele. Jeder von ihnen, nehmen wir an, strebt zur Abrundung seines Vermögens, und aus der Gesamtheit ihrer Einzelhandlungen ergeben sich bestimmte gesellschaftliche Resultate, die sie vielleicht gar nicht gewünscht und sicherlich nicht vorausgesehen haben. Die wohlhabenden römischen Bürger kauften die Ländereien armer Grundbesitzer auf. Jeder von ihnen wusste natürlich, dass infolge seiner Handlungen dieser oder jener Tullius oder Julius zum landlosen Proletarier werde. Wer von ihnen sah aber voraus, dass die Latifundien die Republik und damit auch Italien vernichten würden? Wer von ihnen legte sich, konnte sich Rechenschaft über die historischen Folgen seines Erwerbs ablegen? Keiner konnte es; keiner legte sich darüber Rechenschaft ab. Und doch traten die Folgen ein: durch die Latifundien gingen sowohl die Republik als auch Italien zugrunde.

Aus bewussten freien Handlungen einzelner Menschen ergeben sich notwendigerweise für sie unerwartete, von ihnen unvorhergesehene Folgen, die die ganze Gesellschaft berühren, das heißt die Gesamtheit der gegenseitigen Beziehungen der gleichen Menschen beeinflussen. Aus dem Gebiet der Freiheit gelangen wir auf diese Art in das Gebiet der Notwendigkeit.

Wenn die den Menschen unbewussten gesellschaftlichen Folgen ihrer individuellen Handlungen zu Veränderungen der Gesellschaftsordnung führen – was stets, wenn auch nicht immer gleich schnell, vor sich geht –, so erstehen vor den Menschen neue individuelle Ziele. Ihre freie bewusste Tätigkeit erhält notwendigerweise eine neue Form. Aus dem Gebiet der Notwendigkeit gelangen wir wieder in das Gebiet der Freiheit.

Jeder notwendige Prozess ist ein gesetzmäßiger Prozess. Die Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse, die von den Menschen nicht vorausgesehen wurden, aber notwendigerweise als Ergebnisse ihrer Handlungen entstehen, vollziehen sich offenbar nach bestimmten Gesetzen. Die theoretische Philosophie muss sie entdecken.

Für die von den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen in die Lebensziele, in die freie Tätigkeit der Menschen hinein getragenen Veränderungen gilt das offenbar auch. Mit anderen Worten: Der Übergang von der Notwendigkeit zur Freiheit vollzieht sich ebenfalls nach bestimmten Gesetzen, die von der theoretischen Philosophie entdeckt werden können und müssen.

Wenn aber die theoretische Philosophie diese Aufgabe einmal gelöst hat, wird sie der praktischen Philosophie eine völlig neue, unerschütterliche Grundlage vermitteln. Wenn mir die Gesetze der gesellschaftlich-historischen Bewegung bekannt sind, kann ich diese, meinen Zielen entsprechend, beeinflussen, ohne mich weder von den Eskapaden verirrter Atome stören zu lassen noch von Erwägungen, dass mir meine Mitbürger, als mit freiem Willen begabte Wesen, in jedem einzelnen Augenblick ganze Wagenladungen der erstaunlichsten Überraschungen bereiten könnten. Natürlich werde ich nicht für jeden einzelnen Mitbürger, insbesondere wenn er zur „intelligenten Klasse“ gehört, eine Garantie übernehmen können, doch in allgemeinen Zügen wird mir die Richtung der gesellschaftlichen Kräfte bekannt sein, und es wird wohl ausreichen, wenn ich mich, zwecks Erreichung meiner Ziele, auf ihre Resultante stütze.

Wenn ich also zum Beispiel zu jener erfreulichen Überzeugung gelangen sollte, dass in Russland – im Gegensatz zu den übrigen Ländern – die „Stützen“ die Oberhand behalten werden, so nur insofern, als es mir gelingt, die Handlungen der wackeren „Reußen“ als gesetzmäßig zu begreifen, sie vom Standpunkt der Notwendigkeit, nicht aber vom Standpunkt der Freiheit aus zu betrachten. „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“, sagt Hegel, „ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“ [c]

Weiter. Wie gut wir die „Natur des Menschen“ auch erforscht haben mögen, wir sind doch weit davon entfernt, jene gesellschaftlichen Resultate zu verstehen, die sich aus den Handlungen einzelner Menschen ergeben. Nehmen wir an, wir haben zusammen mit den Ökonomen der alten Schule anerkannt, dass das Streben nach Profit das Hauptmerkmal der menschlichen Natur sei. Werden wir imstande sein, jene Formen, die dieses Streben annehmen wird, vorauszusehen? Unter gegebenen, bestimmten, uns bekannten gesellschaftlichen Verhältnissen – ja; aber diese gegebenen, bestimmten, uns bekannten gesellschaftlichen Verhältnisse werden sich unter dem Druck der „menschlichen Natur“, unter dem Einfluss der Erwerbstätigkeit der Bürger selbst ändern. In welcher Richtung werden sie sich ändern? Das wird uns ebenso wenig bekannt sein wie jene neue Richtung, die das Streben nach Profit unter den neuen, veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen einschlagen wird. In genau die gleiche Lage gelangen wir, wenn wir zusammen mit den deutschen Kathedersozialisten wiederholen, die Natur des Menschen erschöpfe sich nicht allein im Streben nach Profit, er habe auch noch „Gemeinsinn“. Das wäre eine neue Melodie zum alten Text. Um der von einer mehr oder weniger gelehrten Terminologie verdeckten Unkenntnis zu entgehen, müssen wir von der Erforschung der Natur des Menschen zur Erforschung der Natur der gesellschaftlichen Verhältnisse übergehen, müssen wir diese Verhältnisse als einen gesetzmäßigen, notwendigen Prozess verstehen lernen. Das aber führt uns zur Frage zurück: Wovon hängt die Natur der gesellschaftlichen Verhältnisse ab, wodurch wird sie bestimmt?

Wir sahen, dass weder die Materialisten des vorigen Jahrhunderts noch die utopischen Sozialisten eine befriedigende Antwort auf diese Frage gegeben haben. Gelang es den idealistischen Dialektikern, sie zu lösen?

Nein, auch ihnen gelang das nicht, und es gelang ihnen nicht, weil sie Idealisten waren. Um uns Klarheit über ihre Ansichten zu verschaffen, denken wir an den obengenannten Streit darüber, was wovon abhängt: die Verfassung von den Sitten oder die Sitten von der Verfassung. Mit Recht bemerkt Hegel zu diesem Streit, die Frage sei hier gänzlich falsch gestellt, da zwar wirklich die Sitten eines Volkes zweifellos die Verfassung beeinflussen und die Verfassung die Sitten dieses Volkes, aber das eine wie das andere das Ergebnis eines „Dritten“ sei, einer gewissen besonderen Kraft, die sowohl die auf die Verfassung einwirkenden Sitten als auch die auf die Sitten einwirkende Verfassung schaffe. Wie ist aber nach Hegel diese besondere Kraft beschaffen, diese letzte Grundlage, auf der sowohl die Natur der Menschen als auch die Natur der gesellschaftlichen Verhältnisse beruht? Diese Kraft ist der „Begriff“ oder, was das gleiche ist, die „Idee“, deren Verwirklichung die gesamte Geschichte eines Volkes ist. Jedes Volk verwirklicht seine eigene Idee, und jede besondere Idee, die Idee eines einzelnen Volkes, ist eine Stufe in der Entwicklung der absoluten Idee. Die Geschichte erweist sich somit als angewandte Logik: eine bestimmte historische Epoche erklären heißt zeigen, welchem Stadium in der logischen Entwicklung der absoluten Idee sie entspricht. Was ist aber diese „absolute Idee“? Nichts als die Verkörperung unseres eigenen logischen Prozesses. Folgendes sagt über sie ein Mann, der die Schule des Idealismus selbst aufs Gründlichste durchgemacht, sich für sie leidenschaftlich begeistert hat, jedoch schon früh bemerkte, worauf der grundsätzliche Mangel dieser philosophischen Richtung zurückzuführen ist:

„Wenn ich mir aus den wirklichen Äpfeln, Birnen, Erdbeeren, Mandeln die allgemeine Vorstellung ‚Frucht‘ bilde, wenn ich weitergehe und mir einbilde, dass meine ... abstrakte Vorstellung ‚die Frucht‘ ein außer mir existierendes Wesen, ja das wahre Wesen der Birne, des Apfels etc. sei, so erkläre ich – spekulativ ausgedrückt – ‚die Frucht‘ für die ‚Substanz‘ der Birne, des Apfels, der Mandel etc. Ich sage also, der Birne sei es unwesentlich, Birne, dem Apfel sei es unwesentlich, Apfel zu sein. Das Wesentliche an diesen Dingen sei ... das von mir aus ihnen abstrahierte und ihnen untergeschobene Wesen, das Wesen meiner Vorstellung, ‚die Frucht‘. Ich erkläre dann Apfel, Birne, Mandel etc. für bloße Existenzweisen, Modi, ‚der Frucht‘. Mein endlicher, von den Sinnen unterstützter Verstand unterscheidet allerdings einen Apfel von einer Birne und eine Birne von einer Mandel, aber meine spekulative Vernunft erklärt diese sinnliche Verschiedenheit für unwesentlich und gleichgültig. Sie sieht in dem Apfel dasselbe wie in der Birne und in der Birne dasselbe wie in der Mandel, nämlich ‚die Frucht‘. Die besonderen wirklichen Früchte gelten nur mehr als Scheinfrüchte, deren wahres Wesen ‚die Substanz‘, ‚die Frucht‘ ist. [d]

Man gelangt auf diese Weise zu keinem besonderen Reichtum an Bestimmungen. Der Mineraloge, dessen ganze Wissenschaft sich darauf beschränkt, dass alle Mineralien in Wahrheit das Mineral sind, wäre ein Mineraloge – in seiner Einbildung ...

Die Spekulation, welche aus den verschiedenen wirklichen Früchten eine ‚Frucht‘ der Abstraktion – die ‚Frucht‘ gemacht hat, muss daher, um zu dem Schein eines wirklichen Inhaltes zu gelangen, auf irgendeine Weise versuchen, von der ‚Frucht‘, von der Substanz wieder zu den wirklichen verschiedenartigen profanen Früchten, zu der Birne, dem Apfel, der Mandel etc. zurückzukommen. So leicht es nun ist, aus wirklichen Früchten die abstrakte Vorstellung ‚die Frucht‘ zu erzeugen, so schwer ist es, aus der abstrakten Vorstellung ‚die Frucht‘ wirkliche Früchte zu erzeugen. Es ist sogar unmöglich, von einer Abstraktion zu dem Gegenteil der Abstraktion zu kommen, wenn ich die Abstraktion nicht aufgebe.

Der spekulative Philosoph gibt daher die Abstraktion der ‚Frucht‘ wieder auf, aber er gibt sie auf eine spekulative, mystische Weise auf ... Er geht daher auch wirklich nur zum Scheine über die Abstraktion hinaus. Er räsoniert etwa wie folgt:

Wenn der Apfel, die Birne, die Mandel, die Erdbeere in Wahrheit nichts anders als ‚die Substanz‘, ‚die Frucht‘ sind, so fragt es sich, wie kommt es, dass ‚die Frucht‘ sich mir bald als Apfel, bald als Birne, bald als Mandel zeigt, woher kommt dieser Schein der Mannigfaltigkeit, der meiner spekulativen Anschauung von der Einheit, von ‚der Substanz‘, von ‚der Frucht‘ so sinnfällig widerspricht?

Das kommt daher, antwortet der spekulative Philosoph, weil ‚die Frucht‘ kein totes, unterschiedsloses, ruhendes, sondern ein lebendiges, sich in sich unterscheidendes, bewegtes Wesen ist. Die Verschiedenheit der profanen Früchte ist nicht nur für meinen sinnlichen Verstand, sondern für ‚die Frucht‘ selbst, für die spekulative Vernunft, von Bedeutung. Die verschiedenen profanen Früchte sind verschiedene Lebensäußerungen der ‚einen Frucht‘ ... Also zum Beispiel in dem Apfel gibt sich ‚die Frucht‘ ein apfelhaftes, in der Birne ein birnenhaftes Dasein ... ‚die Frucht‘ setzt sich als Birne, ‚die Frucht‘ setzt sich als Apfel, ‚die Frucht‘ setzt sich als Mandel, und die Unterschiede, welche Apfel, Birne, Mandel voneinander trennen, sind eben die Selbstunterscheidungen ‚der Frucht‘ und machen die besonderen Früchte eben zu unterschiedenen Gliedern im Lebensprozesse ‚der Frucht‘.“

Das alles ist recht bissig, zugleich aber unbedingt richtig. Bei der Verkörperung unseres eigenen Denkprozesses als absolute Idee und bei der Suche nach der Erklärung aller Erscheinungen durch diese Idee führte der Idealismus sich selbst in eine Sackgasse, aus der man nur heraus gelangen konnte, wenn man die „Idee“ aufgab, das heißt sich vom Idealismus lossagte. Erklären Ihnen zum Beispiel die folgenden Worte Schellings in irgendeiner Form die Natur des Magnetismus? „Der Magnetismus ist der allgemeine Akt der Vergeistigung, des Eindringens der Einheit in die Vielheit, des Begriffs in die Mannigfaltigkeit. Der gleiche Einbruch des Subjektiven in das Objektive, der im Idealen ... das Selbstbewusstsein ist, ist hier im Sein ausgedrückt.“ Nicht wahr, diese Worte erklären überhaupt nichts? Genauso unbefriedigend sind ähnliche Erklärungen auf dem Gebiet der Geschichte. Warum verfiel Griechenland? Weil die Idee, die das Prinzip des griechischen Lebens, der Mittelpunkt des griechischen Geistes war (die Idee des Schönen), nur eine sehr wenig dauerhafte Phase in der Entwicklung des Weltgeistes sein konnte. Derartige Antworten wiederholen die Frage nur in aussagender und dabei schwülstiger, geschraubter Form. Hegel, von dem die eben angeführte Erklärung für den Verfall Griechenlands stammt, fühlt es anscheinend selbst und beeilt sich, seine idealistische Erklärung mit einem Hinweis auf die ökonomische Wirklichkeit des antiken Griechenlands zu ergänzen: „... dass Lacedämon in der Folge besonders wegen der Ungleichheit des Besitzes herunterkam“. [e] So verfährt er nicht nur dort, wo es sich um Griechenland handelt. Man könnte sagen, es ist seine ständige Art in der Philosophie der Geschichte: erst einige nebelhafte Hinweise auf die Eigenschaften der absoluten Idee, dann aber weit ausführlichere und natürlich überzeugendere Hinweise auf den Charakter und die Entwicklung der Eigentumsverhältnisse bei jenem Volk, um das es geht. Eigentlich enthalten die Erläuterungen dieser letzten Art nichts Idealistisches mehr, und Hegel – von dem der Satz stammt: „Der Idealismus erweist sich als die Wahrheit des Materialismus‘‘ – stellt dabei gerade dem Idealismus ein Armutszeugnis aus und erkennt sozusagen stillschweigend an, dass die Sache im Grunde genommen gerade umgekehrt ist, dass der Materialismus sich als die Wahrheit des Idealismus erweist.

Im Übrigen war der Materialismus, dem Hegel hier nahekam, ein gänzlich unentwickelter, rudimentärer Materialismus, der sofort wieder in Idealismus überging, sobald die Herkunft dieser oder jener Eigentumsverhältnisse erklärt werden musste. Zwar unterliefen Hegel auch hier recht häufig völlig materialistische Anschauungen. Doch im Allgemeinen gesprochen, betrachtet er die Eigentumsverhältnisse als Verwirklichung von Rechtsbegriffen, die sich durch ihre eigene innere Kraft entwickeln.

Was haben wir nun über die idealistischen Dialektiker in Erfahrung gebracht?

Sie hatten den Standpunkt der menschlichen Natur verlassen und sich dadurch von der utopischen Anschauung der gesellschaftlichen Erscheinungen losgelöst; sie begannen das gesellschaftliche Leben als einen notwendigen, nach eigenen Gesetzen verlaufenden Prozess zu betrachten. Auf dem Umweg über die Personifizierung unseres logischen Denkprozesses (das heißt einer der Seiten der menschlichen Natur) kehrten sie jedoch zu dem gleichen unbefriedigenden Standpunkt zurück, und darum blieb ihnen das wahre Wesen der gesellschaftlichen Verhältnisse unverständlich.

Jetzt schweifen wir wieder einmal auf das Gebiet unserer heimischen russischen Weisheitsliebe zurück.

Herr Michailowski hörte von Herrn Filippow, der es seinerseits von dem Amerikaner Fraser erfuhr, die ganze Philosophie Hegels bestehe in einem „galvanischen Mystizismus“. Schon daraus, was wir über die Aufgaben sagten, die sich die idealistische deutsche Philosophie stellt, kann der Leser sehen, wie unsinnig die Ansicht Frasers ist. Die Herren Filippow und Michailowski fühlen selbst, dass ihr Amerikaner „über die Stränge haut“. „Es genügt, wenn man an die Nachfolge und den Einfluss (auf Hegel) der vorangegangenen Metaphysik, beginnend mit der Antike, mit Heraklit, denkt ...“, sagt Herr Michailowski, fügt aber gleich hinzu: „Dessen ungeachtet sind Frasers Hinweise im höchsten Grade interessant und enthalten zweifellos einen gewissen Teil Wahrheit.“ Man muss zugeben, obwohl man nicht umhin kann, anzuerkennen ... Schtschedrin hat schon vor langer Zeit die Lächerlichkeit dieser „Formel“ gezeigt. Was soll aber sein früherer Mitarbeiter, Herr Michailowski, tun, der sich vorgenommen hat, für „Uneingeweihte“ einen Philosophen zu deuten, den er nur vom Hörensagen kennt? Ob man will oder nicht, man muss mit der gelehrten Miene eines Kenners nichtssagende Phrasen dreschen ...

Denken wir jedoch an die „Nachfolge“ in der Entwicklung des deutschen Idealismus. „Galvanische Versuche beeindrucken alle denkenden Menschen Europas, darunter auch den damals jungen deutschen Philosophen Hegel“, sagt Herr Michailowski. „Hegel schafft ein kolossales metaphysisches System, das in der ganzen Welt Aufsehen erregt, so dass man sich selbst an den Ufern der Moskwa; nicht vor ihm retten kann ...“ Hier wird die Sache so dargestellt, als habe sich Hegel unmittelbar bei den Physikern mit „galvanischem Mystizismus“ angesteckt. Hegels System ist jedoch nur eine Weiterentwicklung der Ansichten Schellings; es ist klar, dass die Ansteckung zunächst diesen hätte ergreifen müssen. Sie hat es auch, beschwichtigt Herr Michailowski bzw. Herr Filippow bzw. Fraser: „Schelling und insbesondere einige Ärzte, die seine Anhänger waren, führten die Lehre von der Polarität bis zum Äußersten.“ Gut. Nun war aber Fichte bekanntlich der Vorgänger Schellings. Wie hatte die galvanische Ansteckung auf ihn gewirkt? Darüber äußert sich Herr Michailowski überhaupt nicht; anscheinend vermutet er, sie habe in keiner Hinsicht gewirkt. Er ist auch völlig im Recht, wenn er so denkt; um sich davon zu überzeugen, braucht man nur eines der ersten philosophischen Werke Fichtes, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Leipzig 1794, zu lesen. In diesem Werk findet man selbst mit einem Mikroskop nicht den geringsten Einfluss von „Galvanismus“, dabei aber figuriert dort die gleiche berüchtigte „Triade“, die nach des Herrn Michailowski Ansicht das Hauptmerkmal der Hegelschen Philosophie ausmacht und deren Stammbaum Fraser angeblich mit „einem erheblichen Teil Wahrheit“ von den „Versuchen Galvanis und Voltas“ ableitet ... Man muss zugeben, dass das alles sehr sonderbar ist, obwohl man nicht umhin kann, anzuerkennen, dass Hegel immerhin usw. usf.

Der Leser kennt die Ansicht Schellings vom Magnetismus bereits. Der Mangel des deutschen Idealismus bestand keineswegs darin, dass ihm angeblich eine überflüssige, oberflächliche, in die Form des Mystizismus gekleidete Begeisterung für naturwissenschaftliche Entdeckungen jener Zeit zugrunde lag, sondern im Gegenteil darin, dass er bemüht war, alle Erscheinungen der Natur und der Geschichte mit Hilfe des von ihm personifizierten Denkprozesses zu erklären.

Zum Schluss – eine angenehme Nachricht. Herr Michailowski hat entdeckt, dass „Metaphysik und Kapitalismus in enger Beziehung zueinander stehen; dass – um die Sprache des ökonomischen Materialismus zu benutzen – die Metaphysik der notwendige Bestandteil des ‚Überbaus‘ der kapitalistischen Produktionsform ist, obwohl sich das Kapital alle technischen Anwendungen der der Metaphysik feindlichen, auf Versuch und Beobachtung beruhenden Wissenschaft gleichzeitig zu eigen macht, sie sich anpasst“. Herr Michailowski verspricht, sich über „diesen interessanten Widerspruch“ ein andermal zu äußern. Herrn Michailowskis Ausführungen werden wahrlich „interessant“ sein! Überlegen Sie selbst: Was er Metaphysik nennt, erfuhr eine glänzende Entwicklung sowohl im antiken Griechenland als auch im Deutschland des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bis jetzt hat man geglaubt, das antike Griechenland sei keineswegs ein kapitalistisches Land und in Deutschland sei zu jener Zeit der Kapitalismus erst in der Entwicklung begriffen gewesen. Herrn Michailowskis Untersuchung wird zeigen, dass das vom Standpunkt der „subjektiven Soziologie“ völlig falsch ist, dass gerade das antike Griechenland und das Deutschland der Zeit Fichtes und Hegels die klassischen Länder des Kapitalismus waren. Sie erkennen jetzt, „warum solches wichtig ist“. Möge unser Verfasser sich mit der Veröffentlichung seiner bemerkenswerten Entdeckung beeilen. Sing, mein Lieber, genier dich nicht! [17]

* * *

Anmerkungen

1. Gemeint sind Holbach und Diderot.

A. «Le vrai sens du Système de la nature», à Londres 1774, p. 14.

B. «De l’homme»; Œuvres complètes de Helvétius, Paris 1818, v. II, p. 120.

2. Siehe Goethe, Dichtung und Wahrheit“, 3. :Teil, 11. Buch.

3. In der Fußnote bringt Plechanow eine Übertragung dieser Faust-Stelle von N. Cholodkowski.

4. Das höchste Recht ist das höchste Unrecht.

C. Herrn Michailowski scheint diese ewige und allgegenwärtige Herrschaft der Dialektik unverständlich zu sein. Alles verändert sich, nur die Gesetze der dialektischen Bewegung nicht, sagt er mit hämischem Skeptizismus. – Ja, genauso ist es, antworten wir, und wenn Sie darüber staunen, wenn Sie diese Ansicht bestreiten, so bedenken Sie, dass Sie wohl den Grundstandpunkt der modernen Naturwissenschaft werden zu bestreiten haben. Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur an jene Worte Playfairs zu erinnern, die Lyell zum Motto seines berühmten Werkes Principles of Geology wählte: “Amid the revolutions of the globe, the economy of Nature has been uniform and her laws are the only that have resisted the general movement. The rivers and the rocks, the seas and the continents have been changed in all their parts; but the laws which direct these changes, and the rules to which they are subject, have remained invariably the same.“ [Inmitten der Umwälzungen des Erdballs ist sich die Einrichtung der Natur gleich geblieben, und ihre Gesetze allein haben der allgemeinen Bewegung widerstanden. Ströme und Felsen, Meere und Kontinente haben sich in allen ihren Teilen verändert; aber die Gesetze, die diese Veränderungen leiten, und die Regeln, denen sie unterworfen, sind unveränderlich dieselben geblieben.]

5. immer langsam voran!

D. Wissenschaft der Logik, 1. Ausgabe,Teil I, Buch 1, S. 313/314. [f]

E. „Die Karriere eines Rechtsanwalts erträumend“, erzählt Herr Michailowski, „las ich mit Begeisterung, wenn auch ohne die geringste Ordnung, verschiedene juristische Werke. Darunter war auch das Lehrbuch des Kriminalrechts von Herrn Spassowitsch. Dieses Werk enthält eine kurze Übersicht über die verschiedenen philosophischen Systeme in ihrem Verhältnis zur Kriminalistik. Insbesondere verblüffte mich die berühmte Triade Hegels, nach der die Strafe so elegant zur Versöhnung des Widerspruchs zwischen Recht und Verbrechen wird. Die verführerische Wirkung der dreigliedrigen Formel Hegels in den mannigfaltigsten Anwendungen ist bekannt ... kein Wunder, dass ich durch ihre Darstellung in Spassowitschs Lehrbuch gefesselt wurde. Kein Wunder, dass es mich dann zu Hegel und zu manchem anderen hinzog ...“ («Русская мысль» [Russkaja Mysl], 1891, Heft III, Teil II, S. 188). Schade, sehr schade, dass Herr Michailowski nicht mitteilt, in welchem Maße er seinen Hang „zu Hegel“ befriedigt hat. Aus allem ist ersichtlich, dass er in dieser Hinsicht nicht weit gegangen ist.

F. Herr Michailowski versichert, der verstorbene N. Sieber habe in seinen Diskussionen mit ihm, als er die Unvermeidlichkeit des Kapitalismus in Russland bewies, „die verschiedenartigsten Argumente benutzt, sich aber bei der geringsten Gefahr unter den Schutz der unbestreitbaren und unanfechtbaren dreigliedrigen dialektischen Entwicklung gestellt“ («Русская мысль» [Russkaja Mysl], 1892, Heft VI, Teil II, S. 196). Auch versichert er, dass sich die gesamten – wie er es nennt – Prophezeiungen von Marx über den Verlauf der kapitalistischen Entwicklung nur auf die „Triade“ stützen. Über Marx sprechen wir im weiteren, jedoch über N. Sieber ist zu sagen, dass wir mehr als einmal Gelegenheit hatten, mit dem Verstorbenen zu sprechen, aber nie hörten wir ihn sich auf die „dialektische Entwicklung“ berufen. Er sagte selbst mehrmals, dass ihm die Bedeutung Hegels für die Entwicklung der neuesten Ökonomie völlig unbekannt sei. Toten kann man natürlich alles in die Schuhe schieben, und somit ist die Aussage des Herrn Michailowski unwiderlegbar.

6. Nach einem russischen Sprichwort.

G. Siehe sein System der erworbenen Rechte, 2. Auflage, Leipzig 1880, Vorrede, S. XII/XIII.

7. Von dir ist die Rede!

H. Чернышевски, «Очерки гоголевского периода русской литературй» [Tschernyschewski, Skizzen über die Gogolsche Periode der russischen Literatur], St. Petersburg 1892, S. 258/259 [deutsch nach: N. G. Tschernyschewski, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1953, S. 599–602]. In einer besonderen Fußnote erklärt der Verfasser der Skizzen ganz ausgezeichnet, was die Untersuchung aller Umstände, von denen eine Erscheinung abhängt, eigentlich bedeutet. Wir wollen auch diese Fußnote anführen. „Zum Beispiel: ‚Ist der Regen gut oder schlecht?‘ – diese Frage ist abstrakt; sie lässt sich definitiv nicht beantworten; manchmal bringt der Regen Nutzen, manchmal, wenn auch seltener, bringt er Schaden; man muss bestimmt fragen: ‚Nach Beendigung der Getreideaussaat fiel fünf Stunden lang heftiger Regen – war er für das Getreide von Nutzen?‘ Nur hier gibt es eine klare Antwort, und sie hat den Sinn: ‚Dieser Regen War sehr nützlich.‘ – ‚Aber im gleichen Sommer fiel, als die Zeit der Getreideernte herannahte, eine ganze Woche lang ein Dauerregen – war das gut für das Getreide?‘ Die Antwort ist ebenfalls klar und ebenfalls eindeutig: ‚Nein, dieser Regen war schädlich.‘ Genauso werden in der Hegelschen Philosophie alle Fragen beantwortet: ‚Ist der Krieg verderblich oder wohltätig?‘ Allgemein lässt sich hierauf keine bestimmte Antwort geben; man muss zuerst wissen, von was für einem Krieg die Rede ist, alles hängt von den Umständen, von Zeit und Ort ab. Für wilde Völker ist der Schaden des Krieges weniger, der Nutzen dagegen mehr spürbar; kultivierten Völkern bringt der Krieg weniger Nutzen und mehr Schaden. Der Krieg von 1812 aber war beispielsweise für das russische Volk eine Rettung; die Schlacht bei Marathon war eines der positivsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit. Das ist der Sinn des Axioms: ‚Es gibt keine abstrakte Wahrheit; die Wahrheit ist konkret‘ – konkret ist der Begriff eines Gegenstandes dann, wenn der Gegenstand in allen seinen Eigenschaften und Besonderheiten und mit den Umständen, unter denen er existiert, vorgestellt wird, nicht aber in Abstraktion von diesen Umständen und von seinen lebendigen Besonderheiten (wie ihn das abstrakte Denken vorstellt, dessen Urteile daher für das wirkliche Leben keinen Sinn haben).“

8. Anspielung auf eine Fabel Krylows.

I. «Русское Богатство» [Russkoje Bogatstwo], 1894, Heft 2, Abt. II, S. 150.

J. Ebenda, S. 154–157.

9. haben wir das alles geändert.

K. Bei Engels handelt es sich hier eigentlich um Gerstenkörner und nicht um Hafer; aber das ist natürlich unwesentlich.

L. Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft [Anti-Dühring], 1. Auflage, Erster Abschnitt, S. 111/112. [g]

10. Jede Bestimmung ist eine Verneinung.

11. Jacques Offenbach, Die schöne Helena.

M. «Traité de Botanique» par Ph. Van-Tieghem, 2me édit., partie I, Paris 1891, p. 24.

N. Enzyklopädie Teil I, § 230, Zusatz. [Plechanow meint die sogenannte „große“ Enzyklopädie Hegels, nämlich das System der Philosophie. Es heißt dort wörtlich: „Überhaupt ist die wahrhafte Einteilung als durch den Begriff bestimmt zu machen. Dieselbe ist insofern zunächst dreiteilig; indem dann aber die Besonderheit sich als ein Gedoppeltes darstellt, so schreitet damit die Einteilung auch zur Vierteiligkeit fort. In der Sphäre des Geistes herrscht das Trichotomische vor, und es gehört zu den Verdiensten Kants, auf diesen Umstand aufmerksam gemacht zu haben.“ G. W. F. Hegel, System der Philosophie, Erster Teil Die Logik, Stuttgart 1940, S. 440 {§ 230, Zusatz).]

12. Worte Lisettes aus Gribojedows Verstand schafft Leiden.

13. Vergleiche diese Ausführungen mit Engels’ Darlegung! [h]

14. auf der ganzen Front.

O. Alle diese Zitate sind der schon zitierten Zeitschrift «Русское Богатство» [Russkoje Bogatstwo] entnommen.

P. Für Zweifler soll noch ein weiteres Zitat folgen: «J’ai assigné ce premier degré de la décadence des mœurs au premier moment de la culture des lettres dans tous les pays du monde» [Ich schrieb diese erste Stufe des sittlichen Verfalls dem ersten Moment der Entwicklung der Wissenschaft in allen Ländern der Welt zu] Lettre à M. l’abbé Raynal; Œuvres de Rousseau, Paris 1820, v. IV, p. 45.

Q. Siehe den Anfang des zweiten Teils der «Discours sur l’inégalité».

R. Herrn Eugen Dührings Umwälzung etc., 2. Auflage, S. 134. [i]

S. Möge uns der Leser die Zitate aus der Schönen Helena nicht übelnehmen; vor kurzem haben wir Herrn Michailowskis Aufsatz Der Darwinismus und Offenbachs Operetten wieder gelesen und sind noch stark beeindruckt.

T. Minerva war die römische Göttin der Weisheit, also auch der Philosophie, die Eule ihr Symbol. Hegel will sagen, dass die Menschen zur Erkenntnis der sie umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit erst im Nachhinein gelangen. Wörtlich heißt es bei ihm: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“. [j]

15. Vergleiche G. W. Leibniz, Die Theodicee, Leipzig 1925, S. 129.

16. Die Vernunft wird schließlich recht behalten.

17. Aus Krylows Fabel Der Rabe und der Fuchs.


Zuletzt aktualiziert am 17. Mai 2025