G. W. Plechanow

Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung

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Erstes Kapitel

Der französische Materialismus des 18. Jahrhunderts

„Wenn Ihnen heutzutage“, sagt Herr Michailowski, „ein junger Mann begegnet ..., der Ihnen, sogar in unnötiger Eile, mitteilt, er sei ‚Materialist‘, so bedeutet das noch keineswegs, dass er Materialist in allgemein-philosophischem Sinne ist, wie es bei uns früher die Anhänger Büchners und Moleschotts waren. Sehr häufig interessiert sich Ihr Gesprächspartner weder für die metaphysische noch für die wissenschaftliche Seite des Materialismus und hat davon nur höchst verschwommene Vorstellungen. Er will sagen, dass er Anhänger der Theorie des ökonomischen Materialismus sei und auch das nur in besonderem, bedingtem Sinne ...“ [A]

Wir wissen nicht, was für jungen Leuten Herr Michailowski begegnet ist. Doch seine Worte können Anlass zu der Vermutung geben, die Lehre der Vertreter des „ökonomischen Materialismus“ sei ohne jegliche Bindung zum Materialismus „in allgemein-philosophischem Sinne“. Stimmt das? Ist der „ökonomische Materialismus“ tatsächlich inhaltlich so eng und arm, wie Herr Michailowski glaubt?

Ich antworte darauf mit einem kurzen Abriss der Geschichte dieser Lehre.

Was ist „Materialismus in allgemein-philosophischem Sinne“?

Der Materialismus ist das direkte Gegenteil des Idealismus. Der Idealismus will alle Naturerscheinungen, alle Eigenschaften der Materie durch diese oder jene Eigenschaften des Geistes erklären. Der Materialismus verfährt genau umgekehrt. Er versucht, psychische Erscheinungen durch diese oder jene Eigenschaften der Materie, durch diese oder jene Organisation des menschlichen oder überhaupt animalischen Körpers zu erklären. Alle Philosophen, die in der Materie den primären Faktor sehen, gehören zum Lager der Materialisten; alle jene aber, die den Geist für diesen Faktor halten, sind Idealisten. Das ist alles, was über den Materialismus, über den „Materialismus in allgemein-philosophischem Sinne“ zu sagen ist; denn auf seiner Grundthese hat die Zeit die verschiedensten Überbauten errichtet, die dem Materialismus der einen Epoche ein völlig anderes Aussehen verliehen als vergleichsweise dem Materialismus einer anderen Epoche.

Materialismus und Idealismus erschöpfen die wichtigsten Richtungen des philosophischen Denkens. Freilich gab es neben ihnen fast immer etliche dualistische Systeme, die Geist und Materie für getrennte, selbständige Substanzen hielten. Der Dualismus war nie imstande, die unvermeidliche Frage zufriedenstellend zu beantworten, wie diese beiden Substanzen, die nichts gemein haben, einander beeinflussen können. So neigten die konsequentesten und tiefsten Denker stets zum Monismus, das heißt zur Erklärung der Erscheinungen durch irgendein einziges Hauptprinzip (mónos [μόνος] ist griechisch und heißt: einzig). Jeder konsequente Idealist ist gleichermaßen Monist wie jeder konsequente Materialist. In dieser Hinsicht gibt es zum Beispiel zwischen Berkeley und Holbach keinen Unterschied. Jener war konsequenter Idealist, dieser nicht weniger konsequenter Materialist, aber beide waren sie in gleichem Masse Monisten; beide begriffen die Unzulänglichkeit der dualistischen, bis dahin vielleicht verbreitetsten, Weltanschauung gleich gut.

In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts herrschte in der Philosophie der idealistische Monismus; in der zweiten Hälfte triumphierte in der Wissenschaft – mit der die Philosophie inzwischen völlig verschmolzen war – der materialistische Monismus, wenn er auch bei weitem nicht immer konsequent und offen war.

Es ist überflüssig, hier die gesamte Geschichte des Materialismus darzustellen. Unserem Zwecke wird es genügen, seine Entwicklung von der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts an zu betrachten. Und auch hier werden wir im Wesentlichen nur eine – wenngleich die wichtigste – seiner Richtungen berücksichtigen, das heißt den Materialismus Holbachs, Helvétius’ und ihrer Gesinnungsgenossen.

Die Materialisten dieser Richtung führten einen heftigen Kampf gegen die offiziellen Denker jener Zeit, die, auf den von ihnen wohl kaum richtig verstandenen Descartes gestützt, behaupteten, dem Menschen seien gewisse angeborene, das heißt von der Erfahrung unabhängige, Ideen eigen. Die französischen Materialisten widersprachen dieser Ansicht und vertraten dabei eigentlich nur die Lehre Lockes, der bereits am Ende des 17. Jahrhunderts lehrte, es gebe keine angeborenen Ideen (no innate principles). Aber die französischen Materialisten gaben seine Lehre in einer konsequenteren Form wieder und setzten Punkte auf alle die i, die Locke, als wohlerzogener englischer Liberaler, zu berühren vermieden hatte. Die französischen Materialisten waren furchtlose, bis zu Ende konsequente Sensualisten, dass heißt, sie betrachteten alle psychischen Funktionen des Menschen als Modifikationen der Empfindungen. Es ist unnütz, hier zu überprüfen, inwiefern ihre Argumente in diesem oder jenem Falle dem Standpunkt der heutigen Wissenschaft genügen. Selbstverständlich war den französischen Materialisten vieles unbekannt, was heute jeder Schüler weiß; man braucht nur die chemischen und physikalischen Ansichten Holbachs zu erwähnen, der doch mit der Naturwissenschaft seiner Zeit gut bekannt war. Aber den französischen Materialisten kam das unbestreitbare und unersetzbare Verdienst zu, vom Standpunkt der Wissenschaft ihrer Zeit aus folgerichtig gedacht zu haben, und das ist alles, was man von einem Denker verlangen kann und muss. Es nimmt nicht wunder, dass die Wissenschaft unserer Zeit weitergegangen ist als die französischen Materialisten des vorigen Jahrhunderts; wichtig ist aber, dass die Gegner dieser Philosophen auch hinsichtlich der damaligen Wissenschaft rückständige Menschen waren. Zwar stellen die Geschichtsschreiber der Philosophie die Ansichten der französischen Materialisten den Ansichten Kants entgegen, dem man wohl kaum mangelndes Wissen vorwerfen kann; aber diese Gegenüberstellung ist völlig unbegründet, und es wäre leicht nachzuweisen, dass sowohl Kant als auch die französischen Materialisten im Grunde genommen den gleichen Standpunkt vertraten [1], ihn jedoch verschieden auswerteten und daher – entsprechend den Unterschieden jener gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie lebten und dachten – zu verschiedenen Ergebnissen gelangten. Wir wissen, dass diese Ansicht jenen Menschen, die gewohnt sind, den Historikern der Philosophie aufs Wort zu glauben, paradox erscheinen wird. Wir können diese Ansicht hier nicht durch ausführliche Argumente bestätigen, sind aber gern dazu bereit, wenn unsere Gegner es wünschen sollten.

Wie dem auch sei, jedermann ist bekannt, dass die französischen Materialisten das gesamte Seelenleben des Menschen als eine Modifikation der Empfindungen (sensations transformées) betrachteten. Die psychische Tätigkeit von diesem Standpunkt aus betrachten heißt alle Vorstellungen, alle Begriffe und Gefühle des Menschen als das Ergebnis einer Einwirkung der Umwelt auf ihn ansehen. Und so betrachteten die französischen Materialisten diese Frage. Sie erklärten unausgesetzt sehr entschieden und völlig kompromisslos, der Mensch mit all seinen Ansichten und Gefühlen sei das, was die Umgebung, das heißt erstens die Natur, zweitens die Gesellschaft, aus ihm mache. «L’homme est tout éducation» (der Mensch hängt ganz von der Erziehung ab), sagte Helvétius immer, wobei er unter Erziehung die Gesamtheit der gesellschaftlichen Einflüsse verstand. Diese Ansicht vom Menschen als einer Frucht des Milieus war die wichtigste theoretische Grundlage der neuen Forderungen der französischen Materialisten. Tatsächlich, wenn der Mensch von seiner Umwelt abhängt, wenn er ihr alle seine Charaktereigenschaften verdankt, so verdankt er ihr unter anderem auch seine Fehler; will man also seine Fehler bekämpfen, so muss man das Milieu entsprechend modifizieren, und zwar namentlich das gesellschaftliche Milieu, da die Natur den Menschen weder böse noch gut macht. Man versetze den Menschen in vernünftige gesellschaftliche Verhältnisse, das heißt in Verhältnisse, unter denen sein Selbsterhaltungstrieb ihn nicht zum Kampf gegen die übrigen Menschen verleitet, man stimme die Interessen des einzelnen auf die Interessen der ganzen Gesellschaft ab – und die Tugend (vertu) erscheint von selbst, wie ein Stein, den man der Stütze beraubt, von selbst zu Boden fällt. Tugend muss nicht gepredigt, sondern durch vernünftige Organisation der gesellschaftlichen Verhältnisse vorbereitet werden. Die Konservativen und Reaktionäre des vorigen Jahrhunderts waren es, dank denen man die Moral der französischen Materialisten bis auf den heutigen Tag für eine egoistische Moral hält. Sie selbst definierten viel genauer, dass diese Moral bei ihnen völlig in Politik übergehe.

Die Lehre, dass die geistige Welt des Menschen das Ergebnis seiner Umwelt sei, führte die französischen Materialisten häufig zu Schlussfolgerungen, die ihnen selbst unerwartet kamen. So sagten sie zum Beispiel manchmal, die Ansichten des Menschen hätten nicht den geringsten Einfluss auf sein Verhalten, und die Verbreitung dieser oder jener Ideen in der Gesellschaft könne ihr weiteres Schicksal nicht um Haaresbreite verändern. Weiter unten werden wir zeigen, wo der Fehler dieser Ansicht lag, jetzt aber wollen wir unsere Aufmerksamkeit einer anderen Seite der Ansichten der französischen Materialisten zuwenden.

Wenn die Ideen jedes einzelnen Menschen durch seine Umwelt bestimmt sind, so werden die Ideen der Menschheit in ihrer historischen Entwicklung durch die Entwicklung der gesellschaftlichen Umwelt, durch die Geschichte der gesellschaftlichen Beziehungen bestimmt. Wenn wir also beabsichtigten, ein Bild des „Fortschritts der menschlichen Vernunft“ zu zeichnen, und uns dabei nicht auf die Frage „wie?“ (wie ist die historische Bewegung der Vernunft vor sich gegangen?) beschränkten, sondern uns die durchaus natürliche Frage nach dem „warum?“ (warum verlief sie gerade so und nicht anders?) stellten, so müssten wir mit der Geschichte der Umwelt, mit der Entwicklungsgeschichte der gesellschaftlichen Beziehungen beginnen. Der Schwerpunkt der Forschung würde sich somit, zumindest in der ersten Zeit, auf die Untersuchung des gesellschaftlichen Entwicklungsgesetzes verlagern. Die französischen Materialisten waren an diese Aufgabe dicht herangekommen, verstanden es jedoch nicht, sie zu lösen, ja, nicht einmal, sie richtig zu stellen.

Wenn sie auf die geschichtliche Entwicklung der Menschheit zu sprechen kamen, vergaßen sie ihre sensualistische Ansicht vom „Menschen“ im Allgemeinen und wiederholten, wie alle „Aufklärer“ jener Zeit, dass die Welt (das heißt die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander) von Ansichten regiert werde (c’est l’opinion qui gouverne le monde). [B] Das ist der Grundwiderspruch, an dem der Materialismus des 18. Jahrhunderts krankte und der in den Überlegungen seiner Anhänger in eine ganze Reihe zweitrangiger, abgeleiteter Widersprüche zerfiel, ähnlich wie eine Banknote in Kleingeld gewechselt wird.

These. Der Mensch mit all seinen Ansichten ist das Produkt der Umwelt, insbesondere der gesellschaftlichen Umwelt. Das ist eine unvermeidliche Folgerung aus Lockes Grundthese: no innate principles – es gibt keine angeborenen Ideen.

Antithese. Die Umwelt, mit allen ihren Eigenschaften, ist das Produkt der Ansichten. Das ist die unvermeidliche Folgerung aus der geschichtsphilosophischen Grundthese der französischen Materialisten: c’est l’opinion qui gouverne le monde.

Aus diesem Grundwiderspruch leiteten sich zum Beispiel folgende Widersprüche ab:

These. Der Mensch hält jene gesellschaftlichen Verhältnisse für gut, die ihm nützlich sind; er hält jene Verhältnisse für schlecht, die für ihn schädlich sind. Die Ansichten der Menschen werden durch ihre Interessen bestimmt: «L’opinion chez un peuple est toujours déterminée par un intérêt dominant», sagt Suard (die Ansichten eines Volkes werden immer durch ein dominierendes Interesse bestimmt). [C] Das ist nicht einmal eine Folgerung aus Lockes Lehre, sondern eine einfache Wiederholung seiner Worte: “No innate practical principles ... Virtue generally approved; not because innate, but because profitable ... Good and Evil ... are nothing but Pleasure or Pain, or that which occasions or procures Pleasure or Pain to us.” (Es gibt keine angeborenen sittlichen Ideen ... Die Tugend wird allgemein gebilligt, nicht weil sie angeboren, sondern weil sie nützlich ist ... Gut und Übel sind ... nur Freude und Schmerz, oder das, was uns Freude und Schmerz verursacht oder verschafft.) [D]

Antithese. Bestimmte Verhältnisse scheinen den Menschen nützlich oder schädlich zu sein in Abhängigkeit von dem Gesamtsystem der Ansichten dieser Menschen. Derselbe Suard sagt, dass jedes Volk «ne veut, n’aime, n’approuve que ce qu’il croit être utile» (nur das wünscht, liebt und unterstützt, was es für nützlich hält). So läuft letzten Endes alles wieder auf die Ansichten hinaus, die die Welt regieren.

These. Wer glaubt, dass die religiöse Moral, zum Beispiel das Gebot der Nächstenliebe, die sittliche Besserung der Menschen auch nur teilweise fördere, irrt sich sehr. Gebote dieser Art, wie Ideen überhaupt, haben keine Gewalt über die Menschen. Es kommt auf die gesellschaftliche Umwelt, auf die gesellschaftlichen Verhältnisse an. [E]

Antithese. Die historische Erfahrung zeigt uns, «que les opinions sacrées furent la source véritable des maux du genre humain» [2], und das ist durchaus begreiflich, denn da die Ansichten die Welt überhaupt regieren, regieren falsche Ansichten sie wie blutdürstige Tyrannen.

Die Liste solcher Widersprüche bei den französischen Materialisten, wie sie viele gegenwärtige „Materialisten in allgemein-philosophischem Sinne“ von ihnen geerbt haben, ließe sich leicht erweitern. Das ist jedoch überflüssig. Sehen wir uns lieber den allgemeinen Charakter dieser Widersprüche an.

Es gibt Widersprüche und Widersprüche. Wenn sich Herr W. W. [3] in seinen Geschicken des Kapitalismus“ oder im ersten Band der Ergebnisse einer ökonomischen Erforschung Russlands selbst auf Schritt und Tritt widerspricht, so kann seinen logischen Fehltritten die Bedeutung höchstens eines „menschlichen Dokuments“ beigemessen werden; der künftige russische Literaturhistoriker wird sich nach einem Hinweis auf diese Widersprüche einer im Sinne der gesellschaftlichen Psychologie höchst interessanten Frage zuwenden müssen, und zwar der Frage, warum diese Widersprüche, unbezweifelbar und offensichtlich, wie sie waren, sehr, sehr vielen Lesern des Herrn W. W. verborgen blieben. In unmittelbarem Sinne sind die Widersprüche dieses Schriftstellers fruchtlos wie der bewusste Feigenbaum. Es gibt Widersprüche anderer Art. Unbezweifelbar wie die Widersprüche des Herrn W. W., unterscheiden sie sich von den letzteren dadurch, dass sie das menschliche Denken nicht einschläfern, seine Entwicklung nicht hemmen, sondern es vorwärtstreiben – und manchmal derart heftig vorwärtstreiben, dass sie sich in ihren Folgen als fruchtbringender erweisen denn die harmonischsten Theorien. Von solchen Widersprüchen könnte man mit Hegel sagen: {Der Widerspruch ist das Fortleitende}. Gerade zu dieser Art gehören die Widersprüche des französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts.

Betrachten wir ihren Grundwiderspruch: Die Ansichten der Menschen werden durch die Umwelt bestimmt; die Umwelt wird durch die Ansichten bestimmt. Diesen Widerspruch muss man so beurteilen, wie es Kant in seinen „Antinomien“ ausdrückte: Die These sei ebenso richtig wie die Antithese. Tatsächlich unterliegt es keinem Zweifel, dass die Ansichten der Menschen durch ihre gesellschaftliche Umwelt bestimmt werden. Ebenso zweifellos ist es auch, dass kein Volk mit einer Gesellschaftsordnung einverstanden sein wird, die allen seinen Ansichten widerspricht; es wird sich gegen diese Ordnung erheben, es wird sie auf seine Art umgestalten. So wird es wahr, dass die Ansichten die Welt regieren. Wie können aber diese beiden an und für sich richtigen Thesen einander widersprechen? Die Sache lässt sich sehr einfach erklären. Sie widersprechen einander nur, weil wir sie von einem falschen Standpunkt aus betrachten. Von diesem Standpunkt aus gesehen, scheint es – und muss es unbedingt scheinen –, dass die Antithese falsch sein muss, wenn die These richtig ist, und umgekehrt. Bezieht man aber den richtigen Standpunkt, so verschwindet der Widerspruch und erhält jede der uns störenden Behauptungen eine neue Form; es zeigt sich, dass eine die andere ergänzt, richtiger: bedingt, keineswegs aber ausschließt; wenn sich eine Behauptung als falsch erwiese, so würde auch die andere, uns früher als ihr Antagonismus erscheinende Behauptung nicht mehr zutreffen. Wie soll man nun einen solchen richtigen Standpunkt finden?

Nehmen wir ein Beispiel. Man hat häufig, besonders im 18. Jahrhundert, gesagt, die Staatsordnung eines Volkes sei durch die Sitten dieses Volkes bedingt. Das ist durchaus richtig; als die alten republikanischen Sitten der Römer verschwanden, räumte die Republik der Monarchie das Feld. Anderseits jedoch wurde nicht weniger oft behauptet, die Sitten eines Volkes seien durch seine Staatsordnung bedingt. Auch das unterliegt keinem Zweifel. Tatsächlich, woher hätten die Römer beispielsweise der Zeit Heliogabals republikanische Sitten haben können? Ist es nicht offensichtlich, dass die Sitten der Römer zur Zeit des Imperiums etwas darstellen mussten, was den alten republikanischen Sitten entgegengesetzt war? Wenn das aber klar ist, so gelangen wir zu jener allgemeinen Schlussfolgerung, dass die Staatsordnung durch die Sitten, die Sitten aber durch die Staatsordnung bedingt werden. Das ist aber eine sich widersprechende Schlussfolgerung. Sicherlich sind wir zu ihr gekommen, weil diese oder jene unserer Thesen fehlerhaft war. Welche aber war es? Zerbrecht euch darüber den Kopf, soviel ihr wollt, ihr werdet weder an der einen noch an der anderen etwas Falsches entdecken; sie sind beide ohne Tadel, da die Sitten eines Volkes tatsächlich seine Staatsordnung beeinflussen und in diesem Sinne ihre Ursache sind, anderseits aber werden sie durch die Staatsordnung bedingt und erweisen sich in diesem Sinn als ihre Folge. Wo ist der Ausweg? Gewöhnlich begnügen sich die Menschen in solchen Fragen mit der Entdeckung der Wechselwirkung: die Sitten beeinflussen die Verfassung, die Verfassung beeinflusst die Sitten – und alles ist klar wie die Sonne, und Menschen, die sich mit dieser Klarheit nicht begnügen, offenbaren eine tadelnswerte Neigung zur Einseitigkeit. So denkt gegenwärtig fast unsere ganze Intelligenz. Sie betrachtet das gesellschaftliche Leben vom Standpunkt der Wechselwirkung: jede Seite des Lebens beeinflusst die übrigen und wird ihrerseits von den übrigen beeinflusst. Nur diese Ansicht ist eines denkenden „Soziologen“ würdig; wer aber, wie die Marxisten, nach irgendwelchen tieferen Ursachen der gesellschaftlichen Entwicklung forscht, der sieht einfach nicht, wie kompliziert das gesellschaftliche Leben ist. Die französischen Aufklärer neigten ebenfalls zu diesem Standpunkt, als sie das Bedürfnis verspürten, ihre Ansichten über das gesellschaftliche Leben zu ordnen und die sie überwältigenden Widersprüche zu lösen. Selbst die systematischsten Köpfe unter ihnen (wir sprechen hier nicht von Rousseau, der mit den Aufklärern überhaupt wenig gemein hat) gingen nicht weiter. So vertritt zum Beispiel Montesquieu in seinen berühmten Werken «Grandeur et decadence des Romains» und «De l’esprit des lois» diesen Standpunkt der Wechselwirkung. [F] Auch das ist selbstverständlich ein richtiger Standpunkt. Eine Wechselwirkung besteht zweifellos zwischen allen Seiten des gesellschaftlichen Lebens. Leider erklärt dieser berechtigte Standpunkt nur sehr, sehr wenig, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil er keine Hinweise über die Herkunft der wechselwirkenden Kräfte gibt. Wenn die Staatsordnung jene Sitten, die sie beeinflusst, voraussetzt, so verdanken diese Sitten offenbar nicht ihr das erste Erscheinen. Das gleiche muss man auch über die Sitten sagen: Wenn sie die Staatsordnung, die sie beeinflussen, schon voraussetzen, so ist es klar, dass nicht sie sie geschaffen haben. Um dieser Verwirrung zu entgehen, müssen wir jenen historischen Faktor finden, der sowohl die Sitten eines Volkes als auch seine Staatsordnung hervorbrachte und damit auch die eigentliche Möglichkeit ihrer Wechselwirkung schuf. Wenn es uns gelingt, diesen Faktor zu finden, werden wir den gesuchten richtigen Standpunkt entdecken und auch den störenden Widerspruch mühelos lösen.

Angewandt auf den Grundwiderspruch der französischen Materialisten, bedeutet das folgendes: Die französischen Materialisten irrten sich sehr, wenn sie – im Widerspruch zu ihren sonstigen Ansichten von der Geschichte – sagten, Ideen seien nichts, da ja die Umwelt alles bedeute. Nicht weniger irrig war auch diese ihre Ansicht von der Geschichte (c’est l’opinion qui gouverne le monde), die die Ansichten zur wichtigsten, zur Grundursache jeder vorhandenen gesellschaftlichen Umwelt erklärten. Zwischen den Ansichten und der Umwelt besteht zweifellos eine Wechselwirkung. Eine wissenschaftliche Untersuchung kann sich aber nicht mit der Anerkennung dieser Wechselwirkung begnügen, da die Wechselwirkung noch längst nicht die gesellschaftlichen Erscheinungen erklärt. Um die Geschichte der Menschheit, das heißt in diesem Fall die Geschichte ihrer Ansichten einerseits und die Geschichte jener gesellschaftlichen Beziehungen, welche die Menschheit in ihrer Entwicklung durchlaufen hat, anderseits, zu begreifen, muss man sich über den Standpunkt der Wechselwirkung erheben, muss man – wenn das möglich ist – den Faktor entdecken, der sowohl die Entwicklung der gesellschaftlichen Umwelt als auch die Entwicklung der Ansichten bedingt. Die Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft des 19. Jahrhunderts war eben die Entdeckung dieses Faktors.

Die Welt wird von Ansichten regiert. Ansichten bleiben doch aber nicht unveränderlich. Was bedingt ihre Veränderung? „Die Verbreitung der Aufklärung“, antwortete schon im 17. Jahrhundert La Motte-le-Vaille. Das ist der abstrakteste und oberflächlichste Ausdruck des Gedankens über die Beherrschung der Welt durch Ansichten. Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts hielten zäh an ihm fest und ergänzten ihn manchmal durch melancholische Überlegungen, wie unsicher das Schicksal der Aufklärung leider überhaupt sei. Bei den talentiertesten unter ihnen merkt man jedoch bereits, dass sie sich der Unzulänglichkeit dieser Ansicht bewusst waren. Helvétius bemerkt, dass die Entwicklung des Wissens gewissen Gesetzen unterworfen sei und dass es folglich irgendwelche verborgenen, unbekannten Ursachen gebe, von denen sie abhänge. Er unternimmt einen höchst interessanten, bis jetzt noch nicht genügend gewürdigten Versuch, die gesellschaftliche und geistige Entwicklung der Menschheit aus ihren materiellen Bedürfnissen zu erklären. Dieser Versuch endete mit einem Misserfolg und konnte aus vielen Gründen gar nicht anders enden. Er blieb aber eine Art Vermächtnis für jene Denker des folgenden Jahrhunderts, die die Sache der französischen Materialisten fortzusetzen unternahmen.

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Anmerkungen

A. «Русское Вогатство» [Russkoje Bogatstwo], Januar 1894, Abt. II, S. 98.

1. Fußnote der sowjetischen Redaktion: Plechanows Hinweis, dass „sowohl Kant als auch die französischen Materialisten im Grunde genommen den gleichen Standpunkt vertraten“, ist unrichtig. Im Gegensatz zum Agnostizismus, dem inkonsequenten subjektiven Idealismus Kants, vertraten die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts die Erkennbarkeit der Welt.

B. „Als Ansicht bezeichne ich das Ergebnis der zahlreichen im Volk verbreiteten Wahrheiten und Irrtümer; das Ergebnis, das seine Urteile, seine Achtung oder Missachtung, seine Liebe oder seinen Hass, seine Neigungen und Gewohnheiten, seine Mängel und Vorzüge, mit einem Wort, seine Sitten bedingt. Diese Ansicht ist es eben, die die Welt regiert.“ Suard, «Mélanges de littérature», Paris, An XII, v. III, p. 400.

C. Suard, v. III, p. 401.

D. Essay concerning human understanding, B. I, chap. 3; B. II, ch. 20, 21, :28.

E. Diese These wird mehrere Male in Holbachs «Système de la Nature» wiederholt. Auch von Helvétius wird sie vertreten, der sagt: „Nehmen wir an, ich habe die unsinnigste Ansicht verbreitet, aus der die abscheulichsten Schlüsse folgen; wenn ich damit an den Gesetzen nichts geändert habe, ändere ich auch nichts an den Sitten“ («De l’homme», Section III, ch. IV). Die gleiche Ansicht äußert auch Grimm, der lange unter den französischen Materialisten gelebt hat, in seiner «Correspondance littéraire», sowie Voltaire, der gegen diese Materialisten kämpfte. In seiner Arbeit «Le philosophe ignorant» und in vielen anderen Werken versuchte der Patriarch von Ferney zu beweisen, dass noch nie ein Philosoph auf das Verhalten seiner Nächsten Einfluss ausgeübt habe, da sich diese in ihren Handlungen von den Sitten, nicht aber von der Metaphysik leiten ließen.

2. dass religiöse Ansichten die wahre Quelle für die Leiden des Menschengeschlechts waren.

3. Pseudonym von W. P. Woronzow.

F. Holbach steht in seiner «Politique naturelle» auf dem Standpunkt der Wechselwirkung zwischen den Sitten und der Staatsordnung. Da er es dort aber mit praktischen Fragen zu tun hat, leitet ihn dieser Standpunkt in einen fehlerhaften Kreis: um die Sitten zu bessern, muss man die Staatsordnung vervollkommnen; um aber die Staatsordnung zu verbessern, muss man die Sitten heben. Diesem Kreise wird Holbach durch einen erdachten, von allen Aufklärern herbeigesehnten bon prince [guten Fürsten] entführt, der als deus ex machina erscheint und den Widerspruch löst, indem er sowohl die Sitten als auch die Staatsordnung bessert.


Zuletzt aktualiziert am 17. Mai 2025